Fast wie Sturm, nur woanders: Riga
Wenn einem die Wohnung oder das Büro mal auf den Kopf fallen, gibt es eine schöne Alternative – einen Urlaub. Und richtige Fußballfans scheuen keine Möglichkeit, auch dann ihrem größten Hobby nachzugehen. So auch geschehen bei meinem letzten Kurztrip ins Baltikum, genauer gesagt nach Riga. Mit im Gepäck ein Ticket für das Spiel der 31. Runde der Virsliga, der höchsten lettischen Spielklasse, zwischen dem Hauptstadtklub Riga FC und niemandem geringer als dem sagenhaften FK Ljepaja.
Riga ist die Hauptstadt Lettlands und hat etwa 600.000 Einwohner. Ein Drittel der Letten lebt also in der Hauptstadt. Das wars dann auch schon von den Informationen, die man so als österreichischer Bobo von diesem Land bzw. dieser Stadt hat. Wer genauer hinsieht, wird schnell bemerken, dass Riga eine Stadt voller Gegensätze ist und mehr verdient hat, als eine kleine Randnotiz auf den Urlaubsplänen von Herrn und Frau Österreicher zu sein.
Riga wurde zu Beginn des 13. Jahrhundert gegründet, nachdem sich zuvor schon – seit der Spätantike – Menschen an den Ufern der Daugava angesiedelt haben. Wie es in dieser Zeit üblich war, brauchte jede Stadt, die Rang und Namen hatte, auch einen Hafen. Aufgrund der strategischen Lage der Stadt – sie liegt im Mündungsbereich des rigaischen Meerbusens und der Daugava – wuchs sie schnell und gewann im lettischen Raum immer mehr an Bedeutung, wobei zu dieser Zeit „lettisch“ noch ein Gedankenexperiment einiger weniger Träumer war. Von einem unabhängigen Lettland wollte nämlich niemand was wissen. Nicht zuletzt deswegen war das Land jahrhundertelang Fehden der benachbarten Großmächte ausgesetzt und wurde wie ein Spielball hin und her geschoben. Das Deutsche Reich, der Deutsche Orden, das russische Zarenreich, Schweden, die Sowjetunion – die Jahrhunderte verbrachte Lettland in den Händen verschiedenster Herrscher, wobei sich eigentlich niemand nennenswert um Riga kümmerte. Die Stadt galt als Waren-Umschlagsplatz, wo hohe Zölle und Steuern erhoben wurden, die in die Hauptstädte, Königspaläste und Schatzkammern wanderten. Von seinem Reichtum wussten die Einheimischen aber lange Zeit nichts.
Zwar besteht der Begriff „lettisch“ bereits seit dem elften Jahrhundert, als Chronisten die Ethnie der Letten – damals noch ein Zusammenschluss einiger Stämme – zuerst schriftlich festhielten. Die lettische Identität formte sich aber erst deutlich später und fand ihren Höhepunkt erst nach dem Zerfall des Zarenreiches 1918, als Karlis Ulmanis, dessen Statuette immer noch zu den zahlreichen Sehenswürdigkeiten der Stadt zählt, als Erster die lettische Unabhängigkeit ausrief. In den zwei Folgejahren mussten die Letten ihre Unabhängigkeit aber auch militärisch verteidigen, nachdem sowohl die Russen, als auch die Deutschen ihre Fühler nach dem kleinen Land ausstreckten. Mit Unterstützung Estlands und Großbritanniens gelang es aber, die Invasionen abzuwenden. 1920 wurde ein Friedensvertrag ausgehandelt, der die lettische Unabhängigkeit erstmals auch von russischer Seite garantierte.
Dieses Versprechen hielt allerdings nur bis in den Zweiten Weltkrieg. Bereits 1940 besetzten sowjetische Truppen das Land, ehe 1941 Nazideutschland einmarschierte und das Land bis 1944 zu verteidigen wusste. Zum Ende des zweiten Weltkrieges eroberten die Sowjets Lettland erneut und würden es auch bis 1991, also bis zum Zerfall der UdSSR, weiter beanspruchen.
Seit der finalen Unabhängigkeit Lettlands 1991 hat sich der Staat von den Repressalien der Großmächte weitgehend erholt. Es entstand in kürzester Zeit ein astrein demokratischer Staat, eine große nationale Identität, ein freier Markt, eine moderne, industrialisierte Wirtschaft. Obwohl die Letten in Sachen Wohlstand und Wachstum noch weit hinter den Esten und ein gutes Stück hinter den Litauern liegen, hat Lettland auch seit dem EU Beitritt 2004 einen gewaltigen Sprung gemacht.
Die Altstadt Lettlands ist geprägt von hübschen Jugendstilhäusern, von schmucken Kathedralen und Kirchen und vor allem von marmornen Statuen der nationalen Helden vergangener Tage, die stoisch über die Stadt wachen. Sowjetische Statuen sucht man vergeblich, immerhin fühlen die Letten ihren Nationalstolz und entgegen der Meinung so mancher Despoten im Kreml sind sie auch der Meinung, alles andere als russisch zu sein. Das Stadtbild ist aktuell geprägt von wehenden Ukraine-Flaggen. Ob auf Geschäften, Privatwohnungen oder Ämtern, das Gelb-Blau ist allgegenwärtig.
Aber nun zum Groundhoppen. Gleich vorweg – Fußball hat keine große Tradition in Lettland, das eher für seine Begeisterung im Hockey- oder Basketballsport bekannt ist. Und tatsächlich schaffen es immer wieder mal Basketball-Profis in die amerikanische NBA, etwa der 2,18m (!) große Superstar Kristaps Porzingis, der als einer der besten Center der Liga seinen Anteil am Titelgewinn der Boston Celtics hatte. Fußball ist eine Randsportart in Lettland, und mit dieser Erwartung schlenderte ich an diesem Tag – es war der 29.09.2024 – bei etwa 14 Grad und Sonnenschein Richtung „Skonto Stadium“. Das Stadion liegt sehr zentral, in direkter Nachbarschaft gibt es Hotels und Bars, auch in den zentralen „Kronvalda-Park“ sind es kaum 15 Gehminuten.
Das Skonto Stadium wurde 2000 eröffnet und bietet etwa 7000 Zusehern Platz. Mit meinem Seitenrang-Ticket in der Hand machte ich mich also auf den Weg in den Eingangsbereich des Stadions, wo zuerst Landesliga-Vibes regierten. Die Eintrittskarte am Seitenrang kostet übrigens je nach Rang zwischen sechs und acht Euro – allgemein ist Lettland sehr günstig. Die Bierpreise trafen mich als begeisterten Biertrinker allerdings schon – sechs Euro für ein halbes „Mezpils“, das zwar ausgezeichnet schmeckt, allerdings in der Spelunke vor dem Stadion um nur zwei Euro zu bekommen ist. Biertrinker sind also gut beraten, bereits vor dem Eintritt ins Stadion ihren Durst zu stillen!
Aber im Urlaub kennt man kein Sparen, deshalb gings dann mit Bier und um sechs Euro erleichtert weiter. Am „Vorplatz“ des Stadions sorgte ein DJ und eine Bubble-Artistin für die Unterhaltung der Fans. Eine Stunde vor dem Ankick um 16.00 Uhr konnte man die bereits anwesenden Zuschauer allerdings an zwei Händen abzählen.
Also nutzte ich die Zeit, mit die Trophäensammlung des Riga FC anzusehen. Obwohl der Klub erst vor etwa zehn Jahren gegründet wurde, zieren einige nennenswerte Pokale die Glasvitrine im Eingangsbereich des Stadions. Meister, Pokalsieger und sogar Champions League-Schalen, die an Qualifikationsspiele gegen Gegner aus Andorra oder Montenegro erinnern. Ein kleiner aber feiner Fanshop befindet sich auf der rechten Seite des Eingangsbereich, dort gibt es Schals, Shirts, Hoodies, Trikots und kleinere Goodies zu kaufen. Üblicherweise würde ich jetzt einige Zeilen zur Geschichte des Klubs schreiben, die ist aber sehr begrenzt – kurzum entstand der FC Riga nach dem Konkurs des Skonto FC, der dazu führte, dass kein Hauptstadtklub in der Virsliga vertreten war. Parallel zum Riga FC wurde auch der Stadtrivale FK RFS (Riga Football School) ins Leben gerufen. Experten wissen es natürlich: 2021 wechselte Kevin Friesenbichler vom SK Sturm zum FK RFS, wo er in den folgenden zwei Jahren auch auf 22 Scorer kam. Heute schnürt der gebürtige Weizer seine Fußballschuhe in Diensten des DSV Leoben in der Regionalliga.
Mit einem Shirt im Gepäck ging es dann auf meinen Sitzplatz. Nach einigen Minuten der Sitzplatzsuche wurde mir bewusst, dass ich mich hier in Riga befinde, und die auf den Tickets ausgewiesenen Sitzplätze eher eine Empfehlung sind als eine Vorgabe. Freie Platzwahl, danke für die frühe Info. Tipp: Wer sich doch noch zwei Euro sparen möchte, kauft sich Tickets für die äußeren Seitenränge, die etwas günstiger sind.
Meine ersten Blicke streiften also über das Stadion, und mein erster Eindruck war „WOW“. Pipifeiner Rasen. Davon kann Liebenau sich jedenfalls eine Scheibe abschneiden. Denn auch im Skonto-Stadion spielen mehrere Klubs aus Riga. Die „Stands“ waren mit bunten, unbequemem Hartplastiksitzen ausgestattet, nur einer der zwei Seitenränge war geöffnet. Gegenüber, am anderen Seitenrang, gab es einen überraschend großen Auswärtssektor, allerdings kam nur ein einziger Fan des FK Ljepaja zu dem Spiel, der dann auch auf der Seitentribüne untergebracht war.
Hinter dem Tor steht eine halbe Sitzer-Tribüne, wie alle anderen Tribünen überdacht. Eine Halbe deshalb, weil eine Sporthalle quasi das Stadion zur Hälfte abgrenzt. Dort wird Basketball gespielt, und wie ich erfahre, kommen dort zu den Spielen immerhin etwa 1000 Fans. Die magere Ausbeute des Heimspiels des FC Riga: etwa 400-500 Fans. Notiz – der FC Riga ist der größte Zusehermagnet des Landes. Zum Vergeleich: Beim FK Tukums tummeln sich für gewöhnlich nicht mehr als 150 Fans auf den Rängen.
Nach nur wenigen Minuten werde ich von einem Deutschen angesprochen. Grund dafür ist wohl meine Sturm-Jacke. „Eyo sprichst Du Deutsch?“. „Ja“. „Nice, lass ma Bier holen und plaudern.“. Groundhopper kennen diese Art der Kommunikation zwischen Gleichgesinnten. Dominic ist Union Berlin Fan und zog von Athen nach Riga, um hier zu arbeiten. In Athen war er Panathinaikos Fan, der Kontrast zum Skonto Stadium war also ein großer. Mit dem sympathischen Deutschen verbrachte ich also das Spiel, es flossen Kaltgetränke und es wurden Geschichten von den unterschiedlichsten Stadien und Matches ausgetauscht, über Tradition und Kommerz philosophiert und ganz nebenbei wurde auch das Spiel angepfiffen, was speziell durch die etwa 30 Kurvengeher des FC Riga mit Trommeln und „Riga… Riga… Riga…“ Gesängen zelebriert wurde.
Viel mehr kam von den Rängen weitgehend nicht. Und auch am Platz plätscherte ein Spiel vor sich hin, das eher an einen Regionalliga-Kick erinnerte, als das Duell des lettischen Zweiten gegen den Neunten. Speziell Gauthier Mankenda, ein 27-jähriger Flügelspieler aus dem Kongo, beeindruckte mit seiner extremen Physis, die irgendwo zwischen „McDonalds-Statur“ und „Koloss von Rhodos“ lag. Trotz seines Körpers, den er mit sich herumschleppen muss, war er beeindruckend schnell und auch technisch begabt. Die Nummer 23, Eduard Daskevics, überzeugte dazu mit flinken Beinen und technischer Finesse. Einer der wenigen im Kader, die den Sprung ins – deutlich lukrativere – Ausland schaffen könnten. (Und damit ist etwa die estnische Liga gemeint. Top Kicker schaffen es in die skandinavischen Ligen, die wenigsten etwa in die Top-5-Ligen)
Etwa nach einer Stunde dann ein Pfiff und ein Finger in Richtung Elfmeterpunkt, Jubel auf den Rigaer Rängen. Der VAR meldete sich zu Wort, und der Schiedsrichter lief zum Bildschirm. Der ist nicht, wie etwa bei uns, zwischen den Trainerbänken oder zumindest an der Mittellinie positioniert, sondern hinter dem Tor, hinter dem keine Tribüne steht. Was bedeutet, dass der Schiedsrichter einen 120 Meter Sprint hinlegen musste, und auch wieder retour. Allzu fit schien der Schiedsrichter allgemein nicht zu sein, also vergingen ein paar Minuten, bis die Entscheidung, die klarer eigentlich nicht sein könnte, feststand – Elfer. Reginaldo Ramires, ein Venezolaner, verwertete staubtrocken und stellte so den Endstand her.
Ein weiteres Highlight des Spiels war ein Doppelregenbogen, der uns alle begeisterte. Außerdem stach Ljepajas Nummer Neun, Aram Baghdasaryan, heraus. Ein 17-jähriger Jungspund aus Armenien, der auf den Flügeln eingesetzt wird. Er fiel mir bereits vor Beginn des Spiels auf, weil er einer von wenigen Ljepaja-Profis war, die in ihren privaten Jeans und in weißen Sneakers aufwärmten. Ein lustiges Bild. Dass er dann auch ein passabler Kicker war, stellte er noch unter Beweis, immerhin wurde er für die letzten zehn Minuten eingewechselt. Diesmal mit richtigen Schuhen und Hose, die er wohl von einem anderen Bankspieler erhielt.
Das Spiel endete 1:0 und der FC Riga darf weiterhin auf die Meisterschaft hoffen, obwohl Stadtkonkurrent RFS die Nase noch vorne hat. Ein Highlight gab es noch: Nach etwa einer Stunde nahm ich neben mir zwei Damen wahr, die nuschelten und in meine Richtung blickten. Etwas irritiert konzentrierte ich mich auf die Partie. Aber da hörte ich deutlicheres Nuscheln, bis ich die Worte „Oida, der Hawi hod a Sturm Jacken on“ ganz klar vernehmen konnte und verdutzt in zwei ebenso verdutzte Gesichter blickte. Diese Gesichter gehörten Doris und Andrea, die doch tatsächlich „Schwoaze“ sind und ihre Heimspiele im 16er besuchen. Ja, es war passiert, ja, bei dem Spiel Riga FC gegen FK Ljepaja war ich tatsächlich nicht der einzige Anhänger unseres Klubs. Wie es der Zufall so will, setzten sich die beiden Damen auch noch neben mich und meinen deutschen Freund. Ich glaubte meinen Augen nicht. Wir sind einfach überall.
Zahlreiche nette Gespräche unter Schwoazen und das eine oder andere Kaltgetränk später war es dann wieder vorbei. Ich musste schweren Herzens den Heimweg antreten. Mich zunächst vom Skonto Stadium verabschieden, das zugegeben wenige sportliche Highlights, aber viele freundliche Bekanntschaften bot und für den Preis von sechs Euro wirklich zu unterhalten wusste. Und ich musste mich von Riga verabschieden, einer Stadt, die viel mehr zu bieten hat, als man hierzulande vielleicht denkt.
Für Interessierte: Tickets gibt es Online auf der Website des Riga FC. Air Baltic fliegt täglich die Strecke Wien – Riga, außerdem bieten Billigairlines saisonal diese Route an. Hotelempfehlung ist das Monika Centrum Hotel oder alle Hotels um den Kronvalda Park.
Anzeige Mobil
Anzeige
RECENT POSTS