Bonjour Lille!

Analyse: SturmNetz nimmt den kommenden Gegner unter die Lupe.

Historisches aus Lille

Umfangreich und detailliert sollten die Vorberichte über unsere kommenden Gegner im Europacup werden – während Atalanta Bergamo oder Slovan Bratislava über eine beeindruckende und teils sogar fesselnde Geschichte verfügen, blieb der OSC Lille weitgehend von historischen Katastrophen, politischen Intrigen oder anderen nennenswerten Skandalen und Vorkommnissen verschont.

Spannender ist die Geschichte der Stadt selbst. Gegründet wurde Lille, das im französischen Norden an Belgien grenzt, diversen Quellen zufolge bereits im Jahr 640. Fachleute zweifeln aber bis heute an der Authentizität dieser Quellen, weshalb sie unter Legendenbildung fallen. Erstmals urkundlich erwähnt wurde Lille, das seinen Namen übrigens vom französischen Wort für „Insel“, nämlich „L’Isle“, wohl aufgrund der Lage der damaligen Siedlung auf einer Insel inmitten eines Sumpfes, erst im Jahr 1054. Historisch war Lille als wichtiger strategischer Standort immer wieder Teil militärischer oder politischer Auseinandersetzungen. Vor allem während der französischen Revolution blieb die Region nicht verschont und wurde auch von den Österreichern lange belagert, die aber 1792 die Region wieder aufgeben mussten und sich in die Niederlande zurückzogen.

Während beider Weltkriege blieb Lille überraschenderweise verschont. Während des ersten Weltkrieges wurde die Stadt als offene Stadt tituliert, die französische Armee hielt es für wenig sinnvoll, eine Stadt mit veralteten Verteidigungsanlagen zu bemannen, weshalb französische und deutsche Truppen die Stadt ohne Blutvergießen immer wieder abwechselnd besetzten. Im zweiten Weltkrieg wurden die BeNeLux-Staaten von der Wehrmacht überrannt, wenig später fiel auch Lille den Deutschen zum Opfer – allerdings auch hier ohne dokumentiertes Blutvergießen. Angesichts der damaligen Größe der Armee der Nazis, mit der sich die Franzosen konfrontiert sahen, kapitulierten ebendiese innerhalb eines Tages und übergaben die Stadt quasi kampflos.

Vielleicht ist auch das ein Grund für die gut erhaltene historische Altstadt, über die Lille heute verfügt. Fußgängerzonen, jahrhundertealte Gebäude und kleine Geschäfte prägen das Bild der Innenstadt. Vor genau 20 Jahren war Lille gemeinsam mit Genua Kulturhauptstadt Europas, erst 2020 wurde Lille zur Welthauptstadt des Designs – ein Titel, der von der NGO World Design Organisation vergeben wird. Geografisch liegt Lille in der Region Französisch-Flandern, gesprochen wird hauptsächlich Französisch.

Place du Général de Gaulle – der Hauptplatz von Lille (Foto: Wikimedia Commons CC SA by User Velvet)

Für die hoffentlich zahlreich erscheinenden AuswährtsfahrerInnen (natürlich wird auch SturmNetz vor Ort berichten) gibt es neben dem Fußball auch noch einiges zu entdecken – vor allem Kulturbegeisterte werden auf ihre Kosten kommen. Neben dem berühmten Musée Charles de Gaulle oder dem Orchestre national de Lille gibt es noch einige andere sehenswerte Museen und Palais, etwa das Musée de l’Institut Pasteur oder das Palais Rihour.

Vom Stade Lille Métropole zum Grand Stade Métropole

Nun aber zum Sportlichen – der OSC Lille entstand aus einer Fusion mehrerer lokaler Fußballvereine, von denen der 1902 gegründete Klub Olympique Lillois der älteste Verein war. 1944 kam es zur Fusion, nachdem Lille bereits der Vorgängerverein nationale Erfolge feiern konnte. 1933 feierte man bereits den ersten Meistertitel, es sollten vier weitere folgen. Der letzte nationale Titel in der – trotz der finanziellen Power des Haupstadtklubs PSG – stark umkämpften Ligue 1 liegt erst drei Jahre zurück. Den nationalen Cupbewerb konnte Lille gleich sechs Mal gewinnen. International stehen zwei Teilnahmen im Achtelfinale der Champions League zu Buche, nach dem Sieg im UEFA Intertoto Cup darf man sich immerhin mit einem Schmunzeln im Gesicht auch Europacup-Sieger nennen.

Gespielt wurde bis 2013 im Stade Lille Métropole, das 19.000 ZuseherInnen Platz bot. Seit 2013 spielt man im Grand Stade Lille Métropole, das gar 50.000 Fans fasst. Benannt ist das Stadion aber mittlerweile nach Pierre Mauroy, einem französischen Spitzenpolitiker der sozialistischen Partei, der 28 Jahre lang Bürgermeister der Stadt Lille war und sogar drei Jahre lang den Sitz des Premierministers im Élysée Palast innehatte.

Mannschaft des Lille OSC aus der Saison 1979/80 im Stade Grimonprez-Jooris in Lille (Foto: Wikimedia Commons CC SA by User AideDésintéressée)

Der Kader des OSC

Der Kader des OSC Lille spricht im Vergleich zu dem vom SK Sturm eine eindeutige Sprache. Man muss kein Experte sein, um zu erkennen: Der OSC Lille ist der Favorit, und Sturm wird zwei absolute Bestleistungen brauchen, um die französischen Flandern nachhaltig ärgern zu können.

Paulo Fonseca, der Christophe Galtier ersetzte, setzt gegen nominell unterlegene Gegner gerne auf ein 4-3-3 System und auf geballte Offensivpower.

Wir beginnen aber hinten – im Tor steht mit Lucas Chevalier eine große Nachwuchshoffnung des französischen Fußballs. Chevalier ist „one of their own“, geboren und aufgewachsen im naheliegenden Küstenstädtchen Calais mauserte er sich durch die Jugendabteilungen bishin in die Kampfmannschaft, wo er nach einer Leihe nach Valenciennes auch das Tor hütet. Mittlerweile geht er in seine dritte Saison als Nummer Eins, wobei die Eins eigentlich noch vom Ersatztorhüter Vito Mannone getragen wird – keine schlechte Bilanz für einen 22-Jährigen.

Zwar scheint Chevalier ein sehr solider Torwart zu sein, doch muss er sich immer wieder Vorwürfe in Sachen Konzentration gefallen lassen. Ein Mittel könnte es also auch sein, mal aus der zweiten Reihe abzuziehen, vor allem da man mit Tomi Horvat, Otar Kitehishvili oder Jusuf Gazibegovic drei ganz talentierte Distanzschützen im Kader stehen hat.

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Defensiv gibt es eine ganz klassische Viererkette, links schickt Fonseca in den internationalen Spielen bisher gerne den Schweden Gabriel Gudmunsson auf das Spielfeld. Im Vergleich zum Rest der Defensive ist Gudmunsson wohl sowas wie das schwächste Glied in der Kette – es könnte also über die rechte Offensivseite interessant werden. Innen teilen sich Supertalent Leny Yoro und Bafode Diakite die Aufgaben. Yoro spielt trotz seines jungen Alters eine hervorragende Saison und wurde ebenso beim Lille OSC ausgebildet, nachdem er aus 2017 mit elf Jahren von einem Amateurklub aus Paris in den Norden gelotst wurde. Nicht umsonst steht er bei Real Madrid ganz oben auf dem Zettel, wohl direkt hinter Kylian Mbappe.

Yoro ist mit seinen 190cm Körpergröße überraschend agil und vor allem schnell. Lange Bälle und Laufduelle wird der junge Franzose also mit Handkuss nehmen. Sein Partner in der Innenverteidigung ist mit Diakite ein komplett anderer Spielertyp. Diakite ist eher robust und zweikampfstark, er verteidigt nicht mit den Beinen, sondern mit dem Kopf – er liest das Spiel, hat die Räume im Blick und fängt Bälle gerne schon ab, bevor er überhaupt ins Laufduell muss.

Komplettiert wird die Viererketten von Tiago Santos, der im Sommer erst von Estoril Praia nach Flandern wechselte. Der 21-jährige Portugiese verfügt über eine feine Technik und vor allem über Antritt und Speed. Erinnert sich unsere Leserschaft an Marcus Edwards von Sporting Lissabon? Santos sieht Edwards nicht nur überraschend ähnlich sondern ähnelt ihm auch als Spielertyp, weshalb er sich wohl vor allem offensiv einschalten wird. Auf der Bank wird wohl ein ganz großer Name mit ganz schlechten letzten Jahren sitzen – Samuel Umtiti, der nach seinem Millionentransfer als der neue Carles Puyol beim FC Barcelona gehandelt wurde. Daraus wurde wenig, zwar gewann er mit den Katalanen den einen oder anderen Titel, doch vor allem die letzten drei Jahre sah Umtiti die Champions League nur mehr im Fernsehen. Nach einer Leihe nach Lecce kam Umtiti im Sommer ablösefrei nach Lille, wo er seitdem nur sechs Ligaeinsätze absolvierte. In der Conference League wurde er allerdings bereits fünf Mal eingesetzt, weshalb ein Einsatz nicht ganz ausgeschlossen werden kann.

Im Mittelfeld wird es wohl die Konstellation Nabil Bentaleb, Angel Gomes und Benjamin Andre geben. Bentaleb ist ein sehr solider defensiver Freigeist, der sich nie zu schade ist, seine Abwehr wo es nur geht zu unterstützen. Darüber hinaus ist er kopfballstark und geht gerne auch mit einer gewissen Härte und ausgefahrenen Ellbogen in die Luftduelle. Während Bentaleb eher ein „Sechser“ ist, sind Andre und Gomes klassische Achter, die sich sehr gut ergänzen. Andre ist nicht nur Kapitän sondern mit sechs Jahren Vereinszugehörigkeit auch einer der Dienstältesten. Entsprechend routiniert bewegt er sich, verteilt die Bälle oft auf die Flügel und beruhigt das Spiel. Dagegen ist Angel Gomes eher der Techniker, der mit seinen 168cm Körpergröße zumindest körperlich an einen gewissen Weltmeister aus Rosario erinnert. Gomes sucht sofort den Weg nach vorne und geht auch gerne in Dribblings. Einziges Manko ist wohl seine fehlende Bereitschaft, nach einem misslungenen Dribbling und einem Ballverlust auch wieder den Rückwärtsgang einzulegen.

Auch Yusuf Yazici ist in den Line-Ups Fonsecas gerne gesehen. Mit zehn Scorerpunkten wettbewerbsübergreifend ist er zumindest am Papier der gefährlichste Mittelfeldspieler. Fonseca setzt ihn aber ebenso gerne auf den Flügeln auf.

Im Sturm bekommt es Jusuf Gazibegovic mit Hákon Haraldsson zu tun, der sich bestimmt bei seinem alten Freund Rasmus Hojlund über die Stärken und Schwächen des SK Sturm informiert hat. Der Isländer stand mit Hojlund auch beim FC Kopenhagen zusammen unter Vertrag, ehe er um sechs Millionen Euro nach Frankreich wechselte. Haraldsson ist ein offensiver Freigeist, der seine Position am linken Flügel gerne verlässt und seinem Gegenüber einiges an taktischer Finesse abverlangen wird.

Rechts wird mit Edon Zhegrova wohl ein nicht weniger gefährlicher Flügelflitzer aufgeboten werden. Der vom FC Basel zugekaufte deutsch-kosovarische Rechtsaußen hat in dieser Saison immerhin schon siebzehn Scorerpunkte in doppelt so vielen Spielen erzielt. Manko könnte die Physis sein. Es wird wohl des einen oder anderen Zweikampfes und womöglich einer gelben Karte bedürfen, wenn man ihn über 90 Minuten im Griff haben will.

Ganz vorne gibt es nur einen Namen, den auch zugegeben wohl jeder Sturm Fan live sehen möchte: Jonathan David. Er ist sowas wie die Tormaschine der Lillois, die auch ohne Treibstoff funktioniert. Egal wie, David macht seine Tore, unabhängig vom Service seiner Mannschaftskollegen, unabhängig von der Qualität der Gegner. Bereits zwölf Tore erzielte er in der laufenden Saison, letzte Saison machte er ganze 24 Tore. Wäre da nicht ein gewisser Kylian Mbappe, hätte David wohl seine Trophäe des besten Torschützen bereits inne.

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Das Fazit vor dem Achtelfinale

Lille ist ein großer Gegner für den SK Sturm. Und der SK Sturm ist ein kleiner Gegner für Lille. Ein Walk-Over, wie man in England sagt. Oder nicht? Wenigstens können wir darauf hoffen, dass die Lillois das glauben. Einen Gegner zu unterschätzen hat schon vielen großen Klubs das sprichwörtliche Genick gebrochen. Man denkt an Düdelingen in Salzburg, oder an den sensationellen Sieg von Sheriff Tiraspol im Bernabeu. Mit der Teilnahme im Achtelfinale der Conference League hat der SK Sturm bereits Geschichte geschrieben. Wüthrich, Kiteishvili und Co. müssen niemandem mehr etwas beweisen. Nach drei Niederlagen in fünf Spielen verspüren die Lillois sowas wie minimalen Druck. Das kann für Sturm gut oder schlecht enden – kann Lille den Druck kanalisieren und auf den Platz bringen? Oder kommen die Grazer gerade zum richtigen Zeitpunkt, um aus dem minimalen Druck einen größeren zu machen? Ein Weiterkommen der Grazer ins Viertelfinale schließen so manche ExpertInnen ebenso wie die Buchmacher aus, aber auch die irren sich gerne. Möglich ist alles – man darf sich jedenfalls auf zwei spannende und hochwertige Spiele freuen, auf individuelle Klasse, auf taktisch höchstes Niveau, auf technisch versierte Individualisten und wer weiß – vielleicht auch auf einen Heimsieg am Donnerstag.

 

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