Schiedsrichter Christian-Petru Ciochirca: „Wir werden Lehrgeld zahlen“

XXL-Interview mit dem 32-jährigen FIFA-Referee

Die neue Bundesliga-Saison steht vor der Tür und hat mit dem Auftaktmatch SK Sturm Graz gegen RB Salzburg gleich ein großes Highlight parat. Erstmals wird in der kommenden Spielzeit auch in Österreich der Video Assistant Referee (VAR) zum Einsatz kommen. Nicht zuletzt deshalb haben wir uns mit FIFA-Referee Christian-Petru Ciochirca getroffen und über die stetig wachsenden Herausforderungen des Schiedsrichterwesens unterhalten. Der 32-Jährige, der in seinem Brotberuf als Dolmetscher tätig ist, spricht im großen Sturm-Netz-Interview aber auch über seinen Werdegang, die teils harsche Kritik an Unparteiischen und seine schlimmsten Fehlentscheidungen.

Herr Ciochirca, viele junge Leute haben den Wunsch, Fußballer zu werden. Wie kommt es, dass Sie als Schiedsrichter aktiv werden wollten?

Meine Schiedsrichter-Tätigkeit als Wunsch zu bezeichnen, wäre etwas überspitzt ausgedrückt. Ich habe keine familiäre Vorbelastung und auch ansonsten keine Anknüpfungspunkte an den Fußball. Bei uns in der Familie haben wir uns eher mit Rugby und anderen Sportarten beschäftigt. Ich bin durch einen Zeitungsbericht zum Fußball gekommen und habe danach einen Schiedsrichter kennengelernt, der mich an die Hand genommen hat. So hat sich eine Passion entwickelt.

Können Sie sich noch an den Inhalt des Zeitungsberichts erinnern?

Ich war ca. 14 oder 15 Jahre alt und habe zu dieser Zeit noch Football bei den Giants gespielt. In der „Woche“ habe ich dann einen Bericht gelesen. In diesem wurde ein 15- oder 16-jähriger Schiedsrichter porträtiert und des Weiteren stand in dem Bericht auch, dass neue Unparteiische gesucht werden. Das habe ich dann probiert. Wenn man am ersten Wochenende nach vier bis fünf Spielen mit 70 Euro heimgeht, ist das schon ein lässiges Taschengeld. So ist die Bindung und eine Leidenschaft entstanden.

Gab es zu dieser Zeit Vorbilder, die Sie inspiriert haben?

In der Steiermark gab es schon viele Schiedsrichter, zu denen ich aufgeschaut habe. Ich habe dennoch sehr früh gelernt, mich selbst zu entwickeln. Ich wollte niemanden kopieren, sondern habe Komponenten, die mir gut gefallen haben, übernommen und diese auf meine Art und Weise umgesetzt. Viele bezeichnen heutzutage noch Pierluigi Collina als ihr Idol, ich kann das von mir allerdings nicht behaupten. Manche Sachen gefallen mir einfach an Schiedsrichtern und manche eher weniger. Ich habe versucht, von Sportgrößen aus aller Welt Kleinigkeiten zu übernehmen und diese auf das Schiedsrichterwesen umzumünzen. Das betrifft zum Beispiel Körpersprache, Gestik und auch Bewegungsabläufe. Danach habe ich das individuell für mich angepasst.

Jetzt ist das Eine, in jungen Jahren auf unterer Ebene zu pfeifen und das Andere, als Bundesliga-Schiedsrichter im Einsatz zu sein. Können Sie den Weg in die höchste Spielklasse kurz skizzieren?

Zu meiner Zeit musste man zunächst eine Anwärterprüfung und ein halbes Jahr später ein von einem offiziellen Beobachter des Schiedsrichterkollegiums inklusive schriftlichem Bericht abgenommenes Prüfungsspiel bestehen. Danach durfte man nicht nur im Jugendbereich, sondern auch in der 1. Klasse Meisterschaftsspiele im Seniorenbereich leiten. Für Jugendliche liegt dieser Cut bei 16 Jahren, mit Ausnahmegenehmigungen kann man diese Sachen auch schon mit 15 Jahren machen. Dann geht es in die sogenannte Bewertung, bei der du fünf Spiele pro Saison beobachtet wirst. Dann gibt es eine Benotung und dementsprechend ein Ranking. Man kann somit in jeder Saison aufsteigen. In meinem Fall war es dann so, dass ich recht früh – ich glaube, dass ich 17 Jahre alt war – in den Talentekader der Steiermark für zukünftige Bundesliga-Schiedsrichter hineingekommen bin. Ich hatte dort einige Förderer, die mir geholfen und mein Potential erkannt haben. Mit 18 oder 19 Jahren habe ich dann bereits in der Regional- und Landesliga als Hauptschiedsrichter gepfiffen. 2011 war ich als Assistent in der Bundesliga aktiv, habe mich jedoch – obwohl ich zu dieser Zeit bereits mit Alexander Harkam auch international unterwegs war – von 2014/2015 bis 2017 in der 2. Bundesliga erfolgreich als Spielleiter versucht. Seitdem bin ich Unparteiischer der Bundesliga und seit 2020 einer von sieben Schiedsrichter unseres Landes auf der internationalen Liste.

Sie haben bereits selbst erwähnt, dass Sie seit 2020 auch FIFA-Schiedsrichter sind. Was muss man dafür tun, um diesen Status zu erreichen?

2019 war ich Absolvent des Centre of Refereeing Excellence CORE der UEFA. Das ist ein Förderprogramm für junge und talentierte Schiedsrichter. Wir reisten aus acht Ländern jeweils zu dritt an. Mich als Schiedsrichter begleiteten zwei Assistenten – einer aus Vorarlberg, der andere aus Niederösterreich. Ich habe dieses halbjährliche Programm mit Trainingsplänen, Englischeinheiten sowie zwei Trainingslagern inklusive Spielleitungen in der Schweiz und Frankreich durchgemacht. Dann hat die Schiedsrichter-Elite-Kommission sich dazu entschieden, mich auch auf die Liste der FIFA-Referees zu setzen. Nach Absolvieren eines Einführungskurses der UEFA auf Mallorca begann 2020 meine internationale Karriere.

War das für Sie ein großer oder nur der nächste logische Schritt?

Persönlich sagt man immer, dass man das Potential dafür hat. Aber hier sind wir beim Thema Genügsamkeit: Was ist schon logisch? Wir gehen oftmals von Gesundheit und Ähnlichem aus, doch logisch ist nichts. Man kann alles dafür tun, aber es ist trotzdem – auch, wenn es vielleicht „nur“ die FIFA-Liste ist – schwierig. In Österreich tragen nur sieben von 3000 Schiedsrichtern diese vier Buchstaben auf der Brust. Ich habe mir das hart erarbeitet, weshalb es vermessen wäre, dies als logischen Schritt zu bezeichnen.

Ohnedies scheint äußerst viel Arbeit hinter dem Job des Schiedsrichters zu stecken. Wie viel Zeit investieren Sie wöchentlich für diese Tätigkeit?

Beim Thema Fitness kann man das gut sagen: Ich trainiere rund 15 Stunden pro Woche. Wenn ein Spiel dabei ist, kann man das von dieser Zeit abziehen. Schwieriger wird es schon in puncto Matchvorbereitung und Analyse. Mein Ablauf nach dem Match sieht so aus: Ich sitze meistens auf dem Ergometer und schaue mir zumeist in der Früh das ganze Spiel noch einmal an. Das muss ich wegen meiner kleinen Tochter so machen. Zudem ist es Voraussetzung, regeltechnisch auf dem neuesten Stand zu bleiben. Die Veränderungen in den vergangenen Jahren sind auch für einen „Profi“ wie mich nicht leicht. Man muss sich einlesen, Interpretationen suchen, Material von der UEFA gewinnen und dieses sichten. Vor der Partie beschäftigt man sich mit den Spielern und der Liga. Zusammengefasst komme ich sicher auf einen zusätzlichen 20-Stunden-Job.

Die Leute, die im Profibereich tätig sind, werten nur durch Farben und Nummern.

Welche Veränderungen waren in den vergangenen Jahren aus regeltechnischer Sicht am gravierendsten?

Vor zwei Jahren wurde das Regelbuch komplett neu gemacht. Weil über die Jahre immer wieder neue Erklärungen hinzugekommen sind, musste das Regelwerk überarbeitet werden. Es gab zu viele Informationen. Das erforderte einen totalen Reset. Ich habe zehn Jahre lang mit einem Regelwerk gepfiffen, um es dann weitgehend zu vergessen. Das ist wie eine andere Sprache.

Das hört sich durchaus kompliziert an. Muss man sich durch die neuen Regeln auch an die Spielweise der einzelnen Akteure, die ja teilweise schon länger in Österreich spielen, anpassen?

Die neuen Regeln haben darauf keinen nennenswerten Einfluss. Allerdings sollten sich Schiedsrichter den Spielern anpassen können. Meiner Meinung nach gibt es Schiedsrichter und Spielleiter. Ein Spielleiter ist jemand, der das Spiel so anzulegen versteht, dass es attraktiv ist. Da gehört dazu, kleine Vergehen eventuell nicht zu pfeifen. Das muss aber im Rahmen bleiben. Der Schiedsrichter muss für alle Beteiligten einen Wiedererkennungswert haben und berechenbar sein. Trifft dies zu, wissen Zuschauer – egal, ob die grüne oder rote Mannschaft den Ball hat – wie er entscheidet. Somit bleibt vorhersehbar, was am Spielfeld passiert. Sich effektiv auf jemanden einzustellen, ist hingegen Teil der Matchvorbereitung. Das birgt jedoch unterschwellig die Gefahr von Fehleinschätzungen wegen daraus resultierender Voreingenommenheit in sich. Man beurteilt Situationen vielleicht anders, wobei die Quintessenz des Schiedsrichterhandwerks nachvollziehbares Interpretieren und Umsetzen des Regelwerkes ist. Man hat eine subjektive Wahrnehmung. Wenn ich voreingenommen bin, weil ein Spieler gerne ohne wesentliches Zutun seines Gegners fällt, ist meine Objektivität beeinträchtigt.

Nun weiß man aus dem alltäglichen Leben, dass einem manche Leute sympathischer sind als andere. Wie schafft man es, dieses Gefühl abzustellen?

Das lernt man durch jahrelange Erfahrung und die Anzahl an Spielen. Die Leute, die im Profibereich tätig sind, werten nur durch Farben und Nummern. Es gibt nur diese Parameter. Wenn man eine emotionale Komponente hinzufügt, ist das im Endeffekt eine Schwäche und führt zu Fehlentscheidungen. Wenn du einen Spieler unsympathisch findest, würde das deine subjektive Wahrnehmung trüben. Genau das unterscheidet Top-Schiedsrichter von guten.

Wie ist es dann, wenn die zusätzliche Komponente Fans hinzukommt und man etwa in Graz oder Wien-Hütteldorf von zahlreichen Zuschauern ausgepfiffen wird?

Mir ist das komplett egal. Viele verstehen nicht, dass die Entscheidung vor dem Pfiff getroffen wird. Darauf reagieren die Zuschauer dann. Kein Top-Schiedsrichter pfeift nach drei Sekunden, wenn ein Spieler im Strafraum fällt und die Fans Elfmeter fordern. Von den Top-Leuten reagiert darauf keiner. Die Entscheidung ist schon getroffen. Ob die Nordkurve oder der Block West dann schreit, ist egal.

Wie sehen Sie diesbezüglich die Rolle des VAR (Video Assistent Referee)? Denn wenn man dann an den Spielfeldrand geht und sich eine Situation ansieht, könnte man die Entscheidung ja noch revidieren.

Das wird eine schwierige Komponente. Vor allem deshalb, weil man den Pfiff verzögern muss. Wenn es eine Strafraumsituation gibt und es passiert etwas, wonach unmittelbar danach eine Torchance entstehen kann, kann das durchaus kompliziert werden. Man muss den Torschuss abwarten, bevor man beispielsweise Abseits pfeift. Es ist ein berechtigtes Argument, dass die Leute von draußen bei der Entscheidungsfindung dann Einfluss nehmen könnten. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich noch nicht bewerten kann, wie ich damit umgehen würde. Ich glaube aber, dass es nach der Verzögerung von Situationen – etwa bei einem möglichen Handspiel im Strafraum oder einen Abseitssituation – emotional anders wird als jetzt.

Wäre es angesichts dieser Veränderung und des vorher beschriebenen Zeitaufwands nicht klüger, in Österreich gleich auf ein gänzlich professionalisiertes Schiedsrichterwesen umzustellen?

Dazu gibt es aus meiner Sicht ein einfaches Statement: Wenn wir uns gleich gut wie unsere Liga weiterentwickeln wollen, müssen professionelle Schiedsrichter am besten ab morgen in der Bundesliga agieren. Wenn nicht, werden wir es kaum schaffen, über eine gesamte Saison hinweg konstant gute Spielleitungen zu generieren. Man wird Spitzen, aber auch Tiefs haben. Mit einem 40-Stunden-Job und dieser Belastung des Schiedsrichterwesens schafft man es zwei bis drei Monate, Topleistungen zu bringen. Dann wird man abfallen, weil das Energielevel niedriger wird und der Körper und Geist sich wieder erholen müssen, um gute Leistungen zu erbringen. In der abgelaufenen Saison – da nehme ich mich nicht aus – war das letzte Drittel nicht gut. Wir waren im Kreuzfeuer der Kritik – und das nicht zu Unrecht. Woran das liegt? An einer langen Saison mit beruflichen Hürden und sportlichem Druck. Das generiert einfach Fehler.

Also sehen Sie es ähnlich wie viele Beobachter, dass es in der vergangenen Saison ungewöhnlich viele Fehlentscheidungen gab?

Ich kann es nicht mit Zahlen belegen. In der Saison nach Corona waren wir aber wirklich gut. Wir hatten da auch diese zwölf Wochen, in denen die ganze Welt gestanden ist. Da konnten wir Energie aufladen. Wir hatten dann zwar jeden dritten Tag ein Spiel, aber man hat gemerkt, was es bedeutet, ausgeruht, fit und vielleicht mit weniger Stress in der Arbeit – Stichwort Kurzarbeit – in ein Spiel zu gehen. Da hat man das Leistungspotential gesehen. Es stimmt aber vollkommen, dass die vergangene Spielzeit nicht gut war. Ich glaube auch, dass die fehlenden Freizeitbeschäftigungen ein Faktor waren. Wir konnten nicht abschalten und zum Beispiel ins Café oder Fitnessstudio gehen. Dort können wir im Normalfall Negativerlebnisse verarbeiten. Positive Sachen verarbeiten wir eh alle gerne, aber die merken wir uns bedauerlicherweise nicht so lange wie negative Dinge. Diese können uns teilweise ein Leben lang verfolgen.

© privat

Sie haben soeben impliziert, dass auch Schiedsrichter unter der Pandemie leiden mussten. Können Sie da die teils harsche Kritik an den Unparteiischen nachvollziehen? Und wie gehen Sie mit dieser um?

Fundierte Kritik kann zu Verbesserungen führen. Alles andere – insbesondere das, was in den sozialen Medien steht und nur aus emotionaler Sicht passiert – muss man ignorieren. Das bringt nichts. Bei einer fundierten Kritik sieht das anders aus. Vielleicht ärgert man sich im ersten Moment, aber 24 Stunden später kann man es dann schon nachvollziehen. Man muss die Kritik sondieren und sich fragen: Wie wird sie formuliert und auf welcher Plattform erscheint sie?

Sind Sie selbst noch auf Facebook und Instagram unterwegs?

Ja, ich bin auf beiden Plattformen aktiv. Ich versuche aber, gewisse Sachen nicht zu lesen. Wenn zum Beispiel Sky fragt, ob Ciochirca bei einer Entscheidung Recht hatte, lese ich mir die Kommentare nicht durch. Das bringt nichts. Was habe ich zu erwarten? Ein Tormann wird sich die Kommentare nach einem Patzer auch nicht durchlesen. Er weiß genau, dass er dort dann als „Eiertormann“ bezeichnet wird. Und in meinem Fall würde stehen, dass ich ein blinder Schiedsrichter bin. Was soll ich mit der Information? Da kann ich mich nicht weiterentwickeln.

Wie werden Fehlentscheidungen intern aufgearbeitet? Oder müssen Sie das nur mit sich selbst ausmachen?

Die Hauptarbeit mache ich mit mir selbst und meinem Team aus. In der Steiermark sind wir eine homogene Gruppe mit starken Persönlichkeiten. Wir gehen mit uns selbst hart ins Gericht. Wir sind so, dass wir die Dinge aussprechen, abklatschen und dann ist die Sache erledigt. Am nächsten Tag gibt es keine Vorwürfe mehr. Das ist wichtig. Es gibt auch die Möglichkeit, mit dem Schiedsrichterbeobachter zu telefonieren. In diesem Gespräch werden einzelne Situationen besprochen und am nächsten Tag gehen wir dann mit den Fernsehbildern etwas in die Tiefe. Man muss sagen, dass diese Art und Weise der Aufarbeitung etwas infrage zu stellen ist. Mein ehemaliger Kollege Oliver Drachta hat es gut auf den Punkt gebracht: Man steigt mit einer guten Note ein und kann sich nur verschlechtern. Man kann das Limit – also ein „Sehr gut“ – halten und wenn das Spiel ohne Aufreger verläuft, ist der Einser das erwartungsgemäße Ergebnis. Wenn du eine gelbe Karte oder einen Strafstoß nicht gibst, bekommst du einen Abzug. Wenn man drei Strafstöße richtig gibt und beim vierten danebenliegt, gibt es trotzdem einen Abzug. Man bekommt dann nicht drei „Plus“ und ein „Minus“.

In der vergangenen Saison war es – wenn ich mich zum Beispiel an die rote Karte gegen Kelvin Yeboah in Hütteldorf erinnere – so, dass sich Schiedsrichter Stefan Ebner nach der Partie hinstellt und nach wie vor bei seiner Entscheidung bleibt, obwohl gefühlt 99 Prozent der Menschen anders entschieden hätten. Fehlentscheidungen sind ja teilweise verständlich, aber warum fällt es Schiedsrichtern so schwer, bei Interviews nach dem Spiel offensichtliche Fehler zuzugeben?

Diese Frage ist sehr berechtigt. Wie sollte man damit umgehen, wenn man Fehler macht? Jeder geht unterschiedlich damit um. Wenn wir Menschen eine Entscheidung treffen, wollen wir diese stützen. Es ist schwierig, die Persönlichkeit aufzubringen und zu sagen, dass man sich geirrt hat. Noch viel schwieriger ist das vor 10.000 oder 100.000 Fußballinteressierten. Das ist eine Geschichte der Persönlichkeit. Es gibt Situationen, die aus Schiedsrichtersicht nicht schwarz oder weiß, sondern grau sind. Diese kann man unterschiedlich interpretieren. Jeder geht damit anders um.

Wie machen Sie das?

Ich habe das im letzten Jahr bei Rapid gegen den WAC in der vorletzten Runde bei einer Abseitssituation gehabt. Wir haben ein Tor von Rapid zugelassen, durch das wir dem WAC möglicherweise einen höheren Tabellenplatz genommen haben. Sicher haben da andere Faktoren auch noch mitgespielt, aber im Endeffekt war diese Entscheidung ausschlaggebend dafür, dass der WAC auf einem anderen Rang gelandet ist. Ich habe mich nach dem Spiel dann vor die Kameras gestellt und gesagt, dass die Entscheidung falsch war. Es war vielleicht aber auch ein bisschen einfacher, weil die Verantwortung für Abseitspositionen beim Assistenten liegt. Wahrscheinlich ist es einfacher, sich dann vor die Kamera zu stellen und zu sagen, dass eigentlich nicht ich die Entscheidung getroffen habe. Fakt ist aber auch, dass ich in diesem Team die Führungsrolle habe und für dieses Team geradestehe. In der Kronen Zeitung steht nicht, dass der Assistent XY von Ciochirca die Abseitsposition nicht gesehen hat. Es steht dort, dass Ciochirca ein Abseitstor zugelassen hat – auch wenn das nicht mein Kompetenzbereich ist. Fakt ist, ich habe mich für das Schiedsrichterwesen entschieden und übernehme als Hauptschiedsrichter die Verantwortung. Da muss man sich einfach hinstellen und sagen: Bei Ansicht der Fernsehbilder war das ein Fehler. Ich glaube auch, dass die Akzeptanz der Fußball- und Sport-Öffentlichkeit viel größer wäre, wenn man Fehler zugeben würde. Auch die, die dich nicht mögen, würden dann sagen: Schau, der hat Mut und sagt, dass das eine Fehlentscheidung war. Natürlich kann man das nicht jede dritte Woche machen, weil dann fällt einem das auch auf den Kopf. Es kann auch in die andere Richtung gehen. 

War diese Entscheidung bei Rapid gegen WAC die schlimmste Fehlentscheidung Ihrer Karriere? Oder gibt es da andere, die Sie bis heute verfolgen?

Es gibt schon Entscheidungen, die dich verfolgen. Beispielsweise wenn du in der Entscheidungsfindung eine Entscheidung präferiert hast und du nicht weißt, warum du sie letztlich nicht triffst. Ich glaube, das ist das Schwierigste. Ich habe das bei LASK gegen Austria Lustenau in der Saison 2015/2016 gehabt. Da war ich wahrlich nicht gut. Es hat hinten und vorne nicht gepasst. Das verfolgt dich. Es hat eine Strafraumsituation gegeben und ich habe ein strafstoßwürdiges Foul gesehen, es aber nicht gepfiffen. Drei Sekunden später habe ich mich gefragt, wieso ich meinem Gefühl nicht gefolgt bin. Das ist das Schlimmste: auf einem guten Weg zu sein, dann aber abzuweichen und sich zu fragen, warum man nicht genügend Mut hatte. Diese psychologische Komponente macht es zach. Auf manche Fragen wird man keine Antworten bekommen. 

Wird diesbezüglich von offizieller Seite etwas unternommen und müssen die Schiedsrichter das für sich regeln?

Wir müssen das für uns selbst regeln. Marcel Hirscher sagt zum Beispiel, dass er keinen Mentalcoach braucht, weil ihm dieser nichts beibringen kann. Ich habe sehr lange im mentalen Bereich gearbeitet und habe jetzt ein Fundament, das mir hilft. Aktuell sehe ich keinen Grund, in diesem Bereich weiterzuarbeiten. Ich habe die Basis. Ich bin aber der Meinung, dass der Videoschiedsrichter auf den mentalen Aspekt bezogen eine große Komponente werden wird. 

Warum?

Gehen wir davon aus: Ich treffe eine Entscheidung und bekomme 30 Sekunden später gesagt, dass ich mir die Szene noch einmal draußen ansehen soll. Ich habe die Situation aber anhand meiner Wahrnehmung beurteilt und muss dann das Fernsehbild, welches mir bedauerlicherweise etwas anderes zeigt, anschauen. Da wird die mentale Komponente entscheidend sein: Schaffe ich es, das vor 30 Sekunden Gesehene auszublenden oder nicht? Bin ich so stark in meiner Persönlichkeit, dass ich das werte, was ich jetzt sehe und nicht versuche, mich emotional aus der Sache hinauszumanövrieren? Das wird entscheidend sein. Man kann nicht dort stehen und sich das Fernsehbild aus seiner Position wünschen. Das gibt es nicht. Es gibt nur die vorhandenen Kamerapositionen. Wenn da keine dabei ist, muss ich diese Bilder nehmen und nicht jene, die ich vorher wahrgenommen habe. Es ist brutal schwierig, da den Cut zu machen. Münzen wir es auf das normale Leben um. Wenn jemand fremdgeht und dann draufkommt, dass das ein Fehler war, vergehen Tage bis Wochen. Bei uns sind es Sekunden oder ein bis zwei Minuten. In dieser kurzen Zeit muss man die Situation verarbeiten und sich eingestehen, dass man einen Fehler gemacht hat und diesen revidieren kann. 

Wir haben es vorher schon kurz angeschnitten, aber an dieser Stelle noch einmal die Frage: Würden die Leute es nicht eher gutheißen, wenn man zu seinem Fehler steht?

Es kann auch in die falsche Richtung gehen. Wenn ein Videoschiedsrichter im Einsatz ist, der eine völlig andere Art der Spielleitung hat als du und er sich bei einem Wegdrücken wegen einer möglichen Tätlichkeit eine rote Karte erwartet, für dich dieses Foul aber kein Schlag ist, bringt es nichts, in seiner Entscheidung umzufallen und sich zu denken, warum man die rote Karte gegeben hat. Nach dem Duschen kann man aber ganz entspannt vor die Kamera gehen und seine Entscheidung erklären. 

Zahlen belegen, dass der VAR Erfolg hat.

Es wirkt so, als ob der VAR aus Schiedsrichtersicht nicht die ganz großen Vorteile mit sich bringt. Sehe ich das falsch?

Teilweise. Das Teamwork und die Zusammenstellung sind entscheidend. Die Hauptkomponente des Erfolgs wird sein, wie kooperieren und kommunizieren Haupt- und Videoschiedsrichter. 

Von wem werden diese Teams zusammengestellt?

Es gibt einen Videoschiedsrichtermanager. Im Zusammenspiel mit dem Besetzungsreferenten wird er die Teams zusammenstellen. Noch kurz zur vorherigen Frage: Es ist statistisch belegt, dass 96 Prozent der Entscheidungen richtig sind. Durch den Videoschiedsrichter erhöht sich dieser Prozentsatz auf 99 Prozent. Allein diese Zahlen belegen, dass der VAR Erfolg hat. Man muss einfach verstehen, dass er nur bei klaren und offensichtlichen Fehlentscheidungen eingreift. Die Frage ist dann natürlich, was klar und offensichtlich ist. 

Nun ist es aber in vielen anderen Ligen so, dass oftmals keine klare Linie zu erkennen ist und letztendlich ein Wirrwarr herauskommt.

Das ist nicht von der Hand zu weisen. Ich würde gerne in die Zukunft schauen können und sehen, wie es wird. Faktum ist aber, dass alle neuen Dinge ihre Vorlaufzeit brauchen. Wir werden Lehrgeld zahlen. Das war bei den Deutschen, den Franzosen und den Holländern, die als Vorreiter gestartet sind, so. Dieses Lehrgeld zahlt man überall. Wenn eine Firma eine neue Software installiert, könnte der Server auch für zwei bis drei Tage stehen. Das ist auch auf den VAR umzumünzen. Es kann sein, dass zwei bis drei Spiele komplett den Bach hinunter gehen und es Eingriffe gibt, bei denen wir uns im Nachhinein an den Kopf greifen. Vielleicht bin ich da im Einsatz und denke mir: Das war nicht ideal. 

Sie selbst werden auch als Videoschiedsrichter im Einsatz sein. Wie ist die Vorbereitung in dieser Hinsicht abgelaufen?

Wir hatten, mit der Theorie beginnend, insgesamt 18 Schulungstage. Zuerst sind Spielsituationen aus verschiedenen Ligen hinzugekommen. Da haben wir per Blindleitung das Wording, den Ablauf und einige weitere Dinge gelernt. Danach haben wir wieder per Blindleitung ein Match 90 Minuten lang angeschaut und dabei mit dem Schiedsrichter kommuniziert. Die FIFA, die so etwas wie ein Curriculum vorgibt, hat uns auch ein Pool mit „various incidents“ zur Verfügung gestellt. Jeder hat da eine gewisse Anzahl an Situationen – Tätlichkeiten, Strafraumszenen, Abseitspositionen – durchgemacht, sodass jeder den gleichen Wissensstand und sich durchprobiert hat. Dann hatten wir sogenannte „short matches“ – Partien über zweimal 20 Minuten –, bei denen das volle Team gearbeitet hat. Der Videoschiedsrichter, sein Assistent, der Operator – also der Computerfachmann, der die Bilder zur Verfügung stellt – und die vier Leute auf dem Spielfeld. Da haben wir Gelerntes praxisbezogen umgesetzt. Das bis dato Letzte waren Spiele über 45 Minuten. Der abschließende Part – mit der Ausbildung sind wir an und für sich fertig – besteht aus den Stadionabnahmen, bei denen getestet wird, ob in den Stadien alles funktioniert. Da wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit getestet, ob die Leitungen laufen, die Datenübertragung funktioniert und die Dinge technisch funktionieren. Da wird geschaut, ob das passt – auch, was die Positionierungen der Kameras betrifft. Im Endeffekt werden Feinjustierungen vorgenommen. (Anm.: Das Interview wurde vor den Stadionabnahmen durchgeführt)

Ursprünglich war die Einführung des VAR für das Frühjahr dieses Jahres geplant, diese wurde dann aber verschoben. Und auch generell ließ der VAR in Österreich lange auf sich warten. Warum?

Ich glaube, dass das eine monetäre Geschichte war. Der Hintergrund war natürlich auch Corona, aber man muss schon sagen, dass die Vereine viel Geld in die Hand nehmen müssen, um dieses Projekt finanziell zu stützen. Ich glaube, dass die Ausbildungsphase der ÖFB übernimmt und ab nun der VAR von den Vereinen bezahlt wird. Ich kenne die genaue Summe zwar nicht, aber wenn man 100.000 bis 150.000 Euro für die Schiedsrichter vom Budget abgeben muss, ist das schon heftig. Erich Korherr (Anm.: Obmann des TSV Hartberg) sagt zu mir, dass das zwei bis drei Spieler in seinem Kader wären. Da muss man auch den Vereinen „danke“ sagen, dass sie sich zu diesem Schritt durchgerungen haben. Das ist nicht selbstverständlich. Auf der anderen Seite muss man festhalten, dass du ohne diesen Videoschiedsrichter sowohl aus schiedsrichterlicher als auch aus fußballerischer Sicht im Hintertreffen bist. Eine Mannschaft von uns spielt wahrscheinlich in der Champions League, drei in der Europa- bzw. Conference-League und wir haben keinen VAR – das ist, als würde man mit Flip- Flops auf den Hochkönig gehen. Selbst wenn ich gut drauf bin, habe ich nur die Flip-Flops an und nicht meine Wanderschuhe. Und dann will ich im Konzert der Großen mitspielen?

© ÖFB

Um im Konzert der Großen mitzuspielen, ist auch die Kommunikation der Schiedsrichter mit allen Beteiligten ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Wie legen Sie das an? Können Sie skizzieren, wie Sie in kommunikativer Sicht mit Spielern und Trainern umgehen?

Es geht darum, wie man sich verkauft. Wenn ich im Tunnel stehe, einen Speckring auf der Hüfte habe und ich statt dem M-Leiberl eigentlich ein L-Leiberl bräuchte, weil ich nicht fit bin, wird meine Akzeptanz von den Akteuren eine ganz andere sein, als wenn ein fitter Schiedsrichter dort steht. Wenn ich ein Schmunzeln auf den Lippen habe und nicht angepisst bin, weil ich einen Verein mit weniger Zuschauerpotenzial und nicht vor 20.000 Zuschauern bei Rapid oder Sturm pfeife, wird’s mir helfen. Man soll das Spiel wie jedes andere nehmen und sich reinhauen. Wenn die Schuhe geputzt sind und ich nicht mit Flip-Flops und der Badehose komme, merken das die Akteure. Ansonsten geht es um die Professionalität auf allen Ebenen, insbesondere Auftreten, Kommunikation, etc.. Professionell und ebenbürtig sind Wörter, die ich dafür verwenden würde. Schlussendlich sitzen wir im Profifußball alle im selben Boot. Man wird auch unterschiedlicher Meinung sein. Wenn ich meine vertrete und der Trainer XY seine fundiert begründen kann, bin ich der Letzte, der das als Blödsinn abtut – spätestens dann, wenn die Emotionen raus sind und man sich beim Verlassen des Stadions trifft. Man wird normal darüber reden können, wenn die Gesprächsebene eine passende ist. Wenn dich jemand anpöbelt, werde ich halt wenig reden und die Gesprächsbasis wird nicht gut sein. Ansonsten erkläre ich meine Entscheidungen aber auch den Trainern gegenüber gerne. Bei einem der letzten Male war es sogar so, dass ich einen Trainer gefragt habe, warum sein Stürmer das Pressing bei einem kurzen Abstoß auslöst, indem er auf der Linie steht und nicht einen Meter dahinter. Dann kam die Antwort: Das habe ich noch nie bedacht. Das sind Kleinigkeiten. Wie überall im Leben gibt es Leute, mit denen man gut auskommt und andere, mit denen es auf einer normalen und respektvollen Ebene passt. 

Bei Sturm war es in der Vergangenheit manchmal so, dass dieser respektvolle Umgang nicht immer gegeben war. Ich erinnere mich da an ein Spiel gegen St. Pölten, als Günter Kreissl in der Halbzeitpause Schiedsrichter Andreas Heiß scharf attackierte oder auch an die Auswärtspartie in Mattersburg mit Nestor El Maestro. Das ist ja dann durchaus anders als von Ihnen beschrieben.

Das ist eh so. Ich muss für Günter hier aber eine Lanze brechen, weil ich einfach weiß, dass er mit viel Elan und Herzblut dabei war und auch für die Schiedsrichter ein Herz hatte. In dieser Emotion hat er aufgrund des Drucks wahrscheinlich emotional reagiert, aber er ist definitiv jemand, mit dem du dich wirklich über das Schiedsrichtern unterhalten kannst. Er hat auch ein Ohr für unsere Probleme und kennt sich gut damit aus. Er weiß, in welchen Bereichen wir Aufholbedarf hätten. Vielleicht hat er sich genau aus diesem Grund auch so aufgeregt – weil er eben weiß, dass viel mehr möglich wäre. Wenn einer diese Information nicht hat und sagt, dass die Schiedsrichter einfach schlecht sind, ist es etwas anderes, als wenn jemand die Quelle für die schlechten Leistungen kennt. Es liegt vielleicht nicht immer am Schiedsrichter XY, sondern am Fundament, warum er heute schlecht gepfiffen hat. 

Dennoch: Wie würden Sie damit umgehen, wenn Sie von einem Trainer mit „Hast du keine Eier“ beschimpft werden würden? 

In der Situation kannst du nicht viel machen. Man muss so eine Aktion mit einer roten Karte bewerten. Wenn er die Persönlichkeit hat, das ausdiskutieren zu wollen und er nach dem Spiel zu mir kommt, sollten wir uns hinsetzen und das tun. Ich sage aber auch, dass – sollte es emotional noch nicht passen – man es verschieben und zum Beispiel seine Telefonnummer hergeben kann, damit man 24 Stunden später darüber redet. Das hat es auch schon gegeben. Das gehört dazu. Wir sehen uns regelmäßig und der Kreis der Aktiven im Profifußball ist zwar ein großer, aber enden wollend. Zu guter Letzt sind wir alle voneinander abhängig. Ohne überheblich klingen zu wollen: Ohne Schiedsrichter gibt es kein Spiel, aber ohne 22 Spieler kann ich auch nicht pfeifen. Es wird kein Trainer eine Mannschaft aufstellen können, wenn er nur sechs Spieler zur Verfügung hat. Dann wird es kein Spiel geben. In Österreich verabsäumen wir es vielleicht – und da gehören auch die Schiedsrichter dazu –, dass wir respektvoller miteinander umgehen. Wenn wir zu Manuel Gräfe nach Deutschland schauen, habe ich so eine respektvolle Verabschiedung bei uns noch nie gesehen. Wir alle – Spieler, Schiedsrichter, Trainer – stecken so viel Energie rein. Natürlich bekommen wir eine Aufwandsentschädigung und die Trainer bzw. Spieler ein Gehalt, aber wir legen uns mächtig ins Zeug und davor sollten alle etwas mehr Respekt haben. Da nehme ich die Schiedsrichter nicht aus. Es gibt auch viele Schiedsrichter, die das bedauerlicherweise nicht machen. Da müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen.

Gerade den Fans fällt es wahrscheinlich noch einmal schwerer, bei Fehlentscheidungen diesen respektvollen Umgang mit den Unparteiischen zu wahren. Ist es als Schiedsrichter daher angenehmer, ein Landesligaspiel vor 100 Zusehern als ein Bundesligaspiel in einem vollen Stadion zu pfeifen?

Es ist schwieriger, die Spannung aufzubauen. Das hat man vor allem in der Corona-Pandemie gemerkt. Ich habe mich sehr gefreut, als ich in der letzten Runde in Salzburg vor 3000 Leuten gepfiffen habe. Rene Aufhauser hat zu mir gesagt: Heute wirst du wieder beschimpft werden. Und ich habe dann gesagt: Heute freue ich mich zum ersten Mal seit Langem darauf, beschimpft zu werden. Ich werde schmunzeln müssen. Das ist mir einfach abgegangen. Auch bei der EM war es lässig zu sehen, dass es in Budapest umgeht oder woanders 20.000 Leute dabei sind. Man hört nicht mehr jeden Kontakt. Das war kein Fußball mehr und ist darüber hinaus nahezu zur Gewohnheit geworden. Zu Beginn haben wir alle gesagt, dass das kein Fußball mehr ist und ein halbes Jahr später hat keiner mehr darüber geredet. Wir haben uns angepasst. Gott sei Dank kribbelt es jetzt wieder. Wenn ich an die letzte Runde in Ried (3:2 nach 0:2-Rückstand gegen die Wiener Austria, Anm.) denke, wie die Leute durch die Emotionen den Spielausgang beeinflusst haben… Da habe ich Gänsehaut bekommen! Endlich war wieder das zu sehen, wofür wir tagtäglich arbeiten und wofür wir in der Mitte stehen. Nämlich die Zuschauer zu unterhalten. Da gehören die 22 Spieler und die drei bzw. vier Schiedsrichter dazu, damit das Produkt verkauft wird. Wir arbeiten für den Fußballinteressenten.

Wird es schwierig sein, sich wieder an volle Stadien zu gewöhnen?

Ich glaube, das hängt von der Erfahrung ab. Ich würde das nicht als schwierig bezeichnen. 

Ich glaube, dass in Sachen Niveau nicht viel mehr möglich ist.

Zum Abschluss würde ich gerne noch einen Blick auf die Zukunft des Schiedsrichterwesen werfen. Derzeit sind kaum Frauen im Einsatz. Woran liegt das und wird sich diesbezüglich etwas ändern?

Ich denke, das liegt an zwei Komponenten. Erstens ist es für Frauen sicher schwierig zu beginnen und dann durchzuhalten. Wer lässt sich schon gerne auf irgendeinem Sportplatz in der Steiermark aufs Wüsteste und weit unter der Gürtellinie beschimpfen. Da sagt man wahrscheinlich nur schwer, dass das meine Passion ist. Zweitens hat sich der Fußballsport in puncto Athletik enorm entwickelt, weshalb es für Frauen – außer sie haben einen starken sportlichen Background – immer schwieriger wird. Auch bei uns Männern sind die Limits so gesetzt, dass wir etwas tun müssen. Biologisch gesehen ist der weibliche Körper anders als der männliche. Da braucht man viel Drive, um in dieser fast ausschließlichen Männerdomäne zu bestehen.

Denken Sie, dass wir in absehbarer Zeit mehr Frauen in den besten Ligen sehen werden?

Das kann schon sein. Wenn man sich die internationale Entwicklung ansieht, passiert da schon etwas. Es fassen immer mehr Frauen Fuß. Im Endeffekt ist das Geschlecht egal. Jede, die regeltechnisch etwas kann und die Limits erreicht, soll Spiele leiten. In der NBA und in der NFL agieren auch Frauen. Wenn die Entscheidungen passen, ist das egal.

Kommen wir zur letzten Frage. Welche Ziele wollen Sie in Ihrer Karriere noch erreichen?

Es gibt Träume, die ich gerne für mich behalte. Natürlich gibt es aber auch Fernziele. Das ist bei mir in erster Linie, mich in den nächsten drei bis vier Jahren auf internationaler Bühne zu behaupten und zu reüssieren. Ich will das in mich gesteckte Vertrauen von familiärer und sportlicher Seite zurückgeben und so schnell wie möglich in europäische Spitzenbewerbe kommen. Wie eingangs gesagt, wird es schwierig, mit den aktuellen Gegebenheiten dorthin zu gelangen. Da muss man ehrlich sein. Wenn wir in irgendeiner Form eine semiprofessionelle Basis haben, wird die Chance größer. Es ist derzeit schon intensiv und jetzt kommen noch der VAR und die Conference League dazu. Das geht schon an die Substanz. Man kann über ein bis zwei Jahre hinweg Spitzenleistungen erbringen, aber irgendwann einmal ist der Drops gelutscht. Wenn man eine Mischung aus bezahlt und ehrenamtlich hat, fragt man sich irgendwann einmal, ob es sich noch lohnt und die investierte Zeit in Relation mit dem Output steht. Das muss man sich einfach vor Augen halten: Will man mehr oder ist man mit dem Niveau, das man hat, zufrieden? Ich glaube, dass in Sachen Niveau nicht viel mehr möglich ist, weil wir schon am Plafond angelangt sind. Nicht immer und nicht alle, aber viele sind in puncto Leistungspensum bei diesen Gegebenheiten am Limit – egal, wie kontrovers das auch klingen mag.

Um es auf den Punkt zu bringen: Es braucht letztlich eine Professionalisierung, oder?

Kurz und bündig: ja. Ohne Professionalisierung werden wir – und das ist mein Schlussstatement – diese Sphären, in denen sich unsere Mannschaften teilweise bewegen, nicht erreichen. Damit meine ich die europäischen Gruppenphasen oder unsere Nationalmannschaft. Wir werden da keine Schiedsrichter haben. Das muss man realistisch betrachten und es muss in einem Gespräch wie diesem auch angesprochen werden.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Nikolaus Fink

3 Kommentare

  1. Schworza99 sagt:

    Jedes Bundesland bzw. jeder Bund sollte zumindest einen Profi-Schiri stellen. Es kann nicht sein dass das es um Millionen geht und dann Amateure pfeifen die nebenbei noch hackeln müssen. Ist ja klar dass da die Leistung leidet. Die Bundesliga sollte komplett von Profis geleitet werden. Kannst mir nicht erzählen dass das Bundesliga/ÖFB/Vereine/Verbände es nicht schaffen zumindest 9 Posten zu schaffen. Je professioneller die Schiris desto mehr an Qualität gewinnt auch die Liga.

    Auch der Faktor Frau sollte nicht unterschätzt werden. Glaubt ihr NEM hätte eine Frau so angeschrien oder es würde Rudelbildungen rund um eine Frau geben? Schon die Berührung allein würde für viele Spieler hier eine Hemmschwelle sein. Frauen haben hier die Chance eine echte Autorität aufzubauen, die es bei Mann zu Mann oft nicht gibt. Natürlich von Seiten der Fans kommt immer viel Scheiße in der Beziehung aber wer die Hitze des Gefechtes verträgt sollte sich hier schon zurechtfindenden. Auch hier spielt die Bezahlung natürlich eine Rolle. Eine mehrfache Mutter wird wohl eher nicht Zeit für Job, Kinder UND Hobby haben. Stellt man hier Profis ein hat man auch die Chance hier mehr Frauen zu begeistern.

    Die Altersgrenze für Schiris sollte auch weg bzw. angehoben werden. Sofern die sportlichen Voraussetzungen passen ist es egal ob einer mit 30 oder mit 70 pfeift. Erfahrung ist gerade hier Gold wert. In England gibt es die nicht und da gibt es viele tolle, ältere Schiris.

  2. black_aficionado sagt:

    Sehr gutes Interview! Der gute Herr wirkt sehr reflektiert und spricht schon einige wesentliche Punkte an!
    Warum es der Fußballbund nicht schafft resp. nicht schaffen will das Schiriwesen auf professionelle Beine zu stellen, mir bleibt es ein Rätsel…
    Ich mein, was muss denn noch mehr passieren, als wenn einer aus der Zunft offen zugibt, dass es hobbymäßig einfach nicht möglich ist mit den Leistungen der Clubs Schritt zu halten. Ist ja auch irgendwo ganz klar, alles wird (wurde) immer professioneller, das Spiel schneller, die technischen Hilfsmittel mehr und mehr nur die Schiris werden behandelt wie anno dazumal – das kann sich einfach nicht ausgehen. Und mal ehrlich, da geht es nicht um viele Millionen an Zusatzkosten! Wenn wir da eine handvoll, was weiß ich so um die 20, Schiris (und/oder -Innen) in der Spitze hätten, das täte schon genügen um dem Ganzen zu einem Quantensprung in Richtung Zukunft zu verhelfen.

  3. Siro sagt:

    Sehr guter Beitrag.
    Das Problem im öst. Schiedsrichterwesen, ist, dass man zwar wenn man regelmäßig Spiele leitet, man gut verdient, allerdings bei einer Verletzung oder der Karriere nach dem Pfeifen keinerlei Absicherung hat.
    Darum müssen unsere Schiris auch nebenher arbeiten, weil das Risiko ins Bodenlose zu fallen, einfach zu groß ist.
    Zudem gibt es keinerlei Rückendeckung vom Schiri-Boss (der Stuhlik war zwar als Schiri ein Arroganzling, aber als Boss hat er auf seine Leute geschaut, ist nun aber in Kasachstan und verdient sich dumm und deppat).

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