Ivan Osim, mein Onkel!
Anlässlich des Ablebens von Sturms Jahrhunderttrainer ein SturmNetz-Artikel vom 14. Jänner 2018 aus dem Archiv
Der bosnische Blogger Bojan Mustur verfasst für balkans.aljazeera.net unter anderem Fußballgeschichten. Bojan hat einiges zu erzählen, denn niemand Geringerer als Ivica Osim ist sein Onkel und daher war der 37-Jährige hautnah am „Chef“ dran, in jener Zeit, als Osim jugoslawischer Teamchef wurde, das Nationalteam zur WM 1990 führte und später nebenbei auch als Coach von Partizan Belgrad fungierte. Vor allem aber auch, als der spätere Sturm-Trainer aufgrund der politischen Lage in seiner Heimat schweißgebadet seinen Rücktritt als Teamchef verkündete.
Die Straße
In Belgrad gibt es ein Wandgemälde von Ivica Osim. Unterhalb eines blauen Straßenschildes, auf dem in kyrillischen und lateinischen Buchstaben der Name der Straße – „Sarajevska“ (Sarajewo-Straße) – geschrieben steht. Ich erinnere mich, dass es das gleiche Foto ist, welches im Panini-Album anlässlich der Europameisterschaft 1992 zu sehen ist. Jener Endrunde, an der Jugoslawien aus bekannten Gründen nicht teilnehmen durfte. Das Foto wurde im Stadion von Partizan gemacht. Meine Kindheit habe ich in einer Straße namens „Cvijićeva“ verbracht. Ich war erst fünf Jahre alt, als Ivica Osim, mein Onkel, jugoslawischer Teamchef wurde. Mein Bruder und ich wollten damals auch Fußballer werden. Wir trainierten dafür intensiv und träumten davon, eines Tages den Sprung in die Nationalelf zu schaffen. Eigentlich in jenen Tagen unser einziges Ziel. Ich wollte Torwart werden, der neue Tomislav Ivkovic. Das Vorbild meines älteren Bruders Ognjen war Darko Pancev, der Mazedonier, der später unter anderem für Inter Mailand spielte. Mein Vater, von Beruf Anwalt, hatte allerdings einen anderen Plan. Er steckte uns ins Wasserbecken, mit Hauben auf dem Kopf und gelben Mikasa-Bällen in den Händen. Dad tröstete uns und sagte, dass es im Wasserball auch echte Stars gäbe. Er meinte, dass wir auch in dieser Sportart beliebt und berühmt werden können, wie einst etwa Mirko Sandić (Anm: Goldmedaillengewinner im Wasserball bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko). Doch wir haben ihm nicht geglaubt. In den Achtziger- und Neunzigerjahren gab es dann einen Spieler, der mit seinen Dribblings und Toren viele Wasserball-Fans begeisterte. Einen Spanier namens Manuel Estiarte. Später arbeitete er tatsächlich mit Pep Guardiola zusammen, früher in Barcelona und München, jetzt bei Manchester City.
Hellbrauner Trenchcoat
Wir lebten bis 1988 in der Cvijiceva-Straße. Vor unserem Eingang – Türnummer 72 – spielten wir ständig Fußball. Ich erinnere mich an jene Frühlinge und Sommer zurück, an eine Zeit, in der noch alles glücklich und ruhig zu sein schien. Und an ihn. Meinen Onkel. Er schaute sehr oft bei uns vorbei. Wir Kinder wussten, dass er einen wichtigen Job hatte und dass er sehr berühmt und immens beliebt war. Für gewöhnlich trug er einen hellbraunen oder beigen Trenchcoat. Genau so einen Mantel bekam ich später von meiner Tante Asa geschenkt. An meinem 19. Geburtstag, dem 2. Juli 2000. Ich hatte gerade an der Kunstuniversität zu studieren begonnen und im Fernsehen lief an diesem Tag das Finale der Europameisterschaft zwischen Italien und Frankreich. In so einem Mantel erinnerte mich mein Onkel immer wieder an Monsieur Hulot aus dem Film „Mon Oncle“. Seine blonden Haare, aufgrund derer er den Spitznamen Švabo erhielt, seine tiefblauen Augen, das passte einfach. Mein Bruder und ich hatten Angst vor diesen Augen, auch weil wir trotz unserer kindlichen Naivität wussten, dass er sehr streng sein konnte. Aber auch gerecht. Er war „ters“ (Anm: bosnisches Wort für jemand, der unzufrieden ist, immer etwas bekrittelt). Wie jeder Trainer.
Über uns hat er sich allerdings nie beschwert. Er hat uns immer angelächelt. Ognjen mochte er vor allem aufgrund dessen, da mein Bruder es liebte, andere zu unterhalten oder zu imitieren. Mein Onkel hatte einen langen und stolzen Schritt. Als wir dann den Film „Highlander“ sahen, wurde er für uns endgültig unsterblich. Und das wird er für uns immer bleiben. Manchmal kam er mit einer Zigarette im Mundwinkel und brachte uns Sackerl, die mit den, aus unserer Sicht, weltbesten Pralinen gefüllt waren.
Hotel „Jugoslavija“
Unser Traum von der Nationalmannschaft lebte in den kommenden Jahren weiter. Wir genossen das seltene Privileg bei all seinen Übungseinheiten mit der jugoslawischen Nationalelf in Belgrad dabei zu sein. Ich marschierte durch den Tunnel des Stadions Marakana an der Seite von „Pape“ (Sušić), „Dem Blonden“ (Prosinečki), „Piksi“ (Stojković), „Dejo“ (Savićević), „Faruk“ (Hadžibegić), Tomislav (Ivković), „Brko“ (Vulić), „Meša“ (Baždarević), Srećko (Katanec) und Boban. Noch heute höre ich das Klappern ihrer Fußballschuhe. Es klang nach einer ausgewogenen, romantischen Strauss-Symphonie. So wurden mein Bruder und ich tatsächlich zu „Nationalspielern“ Jugoslawiens. Unser Traum hatte sich erfüllt. Niemand konnte uns aufhalten, nicht einmal unser Vater. Er saß stirnrunzelnd auf der Tribüne und forderte uns auf, zu ihm zu kommen, um ja nicht den Teamchef zu stören. Natürlich haben wir das nicht gemacht. Ich muss gestehen, dafür haben wir sogar des Öfteren Hiebe gekommen. Aber wir gingen nicht mehr weg. Ivan Čabrinović (Anm: Co-Trainer von Osim) gab uns immer einen Ball, mit dem wir neben den Zauberern der Nationalelf gekickt haben. Ich kann mich gut daran erinnern, dass die Bälle sehr hart und schwer waren und uns unsere Beine danach immer schmerzten. Aber so hab ich dieses Handwerk erlernt. Und auch meinen Sprachschatz erweitert. Von nun an wusste ich beispielsweise, wer der „Chef“ (Anm: Osim) und wer der “ Čiča“, der Alte (Anm: Verbandspräsident Mijlanić), war.
Mein Lieblingshotel in meiner Kindheit hieß „Jugoslavija“. Es lag direkt an der Donau, nicht weit von ihrer Mündung in die Save entfernt. Im Jahr 1969 wurde es nach den Plänen des berühmten Zagreber Architekten Professor Lavoslav Horvat erbaut. Es erlebte Gäste wie Königin Elizabeth II, Richard Nixon, Jimmy Carter, Tina Turner, Neil Armstrong und viele andere. Es bestach durch wunderschönes, himmelblaues Glas, durch unzählige gleichförmige Balkone und ein ungewöhnliches Interieur. Es erinnerte mich unwiderstehlich an die Entwürfe eines Gherardi, Donati oder Ferretti. Das Team war dort oft untergebracht. Mein Bruder und ich daher auch. „Der Chef“ gab uns Kindern am Abend frei und wir durften nach Hause, im Gegensatz zu den anderen Spielern, die in Quarantäne bleiben mussten. Doch schon am nächsten Morgen waren wir wieder dort. Ungebeten betraten wir die Zimmer der Spieler, lachten über Spasić, weil er bereits in jungen Jahren seine Haare verlor, spielten mit „Meša“, „Piksi“ zeigte uns Dribbeltricks und Ivković schenkte mir seine Handschuhe.
ITALIA `90
Mein Bruder und ich fanden uns nicht auf der Passagierliste zur Fußballweltmeisterschaft in Italien. Wir waren geschockt und fassungslos, haben tagelang geweint. Er schuldete uns eine Erklärung, aber er war nicht da, sondern in Poreč. Wir fragten unsere Mutter, warum uns „Der Chef“ nicht mitgenommen hat, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte und zuckte nur mit den Schultern. Wir liefen zu Tante Asa, die nur meinte, sie könne uns auch nicht helfen. Außerdem hätte sie jetzt einen Termin beim Friseur.
Während die Eröffnungszeremonie der Weltmeisterschaft 1990 lief, spielten wir Kinder noch immer in Belgrads Straßen. Ich erinnere mich auch noch an „Piksis“ erstes Tor im Spiel gegen Spanien. Ich wollte meinen Onkel umarmen, aber er war ja nicht in meiner Nähe. Unsere Mutter hatte während den Partien ein Ritual: Sie füllte die Badewanne und blieb drinnen, bis das Spiel vorbei war. Es war ihr einfach zu stressig. Aber alle zehn Minuten rief sie, wie denn das Spiel steht und fragte, wie sich das Team so schlägt. Mein Bruder und ich saßen währenddessen mit abgekauten Fingernägeln im Wohnzimmer. Heute frage ich mich, was damals möglich gewesen wäre (Anm: Im Viertelfinale verlor Jugoslawien erst im Elfmeterschießen gegen Argentinien), wenn Hadžibegić, Brnović und Piksi gegen Argentinien nicht verschossen hätten. Švabo hatte auf solche Fragen immer ein altes bosnisches Sprichwort parat: „Ne da se usranom do potoka“ – „Ein Dreckiger schafft es nicht bis zum Bach“.
La Dolce Vita
Den Sommer nach der WM verbrachten wir in Kroatien. Unser Rimini war Vodice, ein kleiner Ort in der Nähe von Šibenik. Unsere gesamte Familie war versammelt. Mama und Tante Asa haben eine ältere Schwester namens Ofelia. Sie war Direktorin des Hotels „Punta“, liebte Shakespeare, genoss die Literatur. Wir alle mochten sie und haben ihr unsere kleinen und großen Geheimnisse verraten. Mit dem Chef sind wir Kinder im offenen Meer weit raus geschwommen, um ihm zu beweisen, wie mutig wir schon waren. Und in der Nähe des Strandes haben wir unser Schiff angelegt. Mein Onkel und ich sahen immer nach dem Rechten. Wir waren jetzt nicht mehr zusammen im „Jugoslawija“, sondern im Hotel „Hyatt“. Aus Blau wurde Gold. Trotz aller Idylle, tief in meinem kindlichen Herzen, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Langsam setzte Dunkelheit ein, ein Land brach auseinander. Und auch das Team schien zu zerfallen. Manche kamen einfach nicht mehr.
Zur selben Zeit überschlugen sich sämtliche Medien mit der Meldung, dass Švabo für Partizan unterschrieben hatte. Mein Bruder und ich hatten somit einen neuen Nachbarn. Der Klubpräsident hatte ihm zwar eine luxuriöse Villa in Dedinje angeboten, er aber wollte lieber bei uns leben. In einer einfachen Umgebung. Da hatten wir ihm für Italien endgültig vergeben. Unser Onkel war immer ein bescheidener Mann, aufgeschlossen und leidenschaftlich. Ein Philosoph. Man muss sich vorstellen, wie mein Bruder und ich uns fühlten, als klar war, dass der Teamchef von Jugoslawien und Partizan-Trainer bei uns im Haus leben würde. Bei uns wohnte jetzt nicht nur ein Fußballtrainer, wir Kinder bekamen somit auch einen Mathematik-, Physik-, Englisch- und Französischlehrer. In jenen Tagen war er unser Kosmos.
Das Schiff fährt weiter
Den Jahreswechsel 1992 haben wir in Sarajevos „Holiday Inn“ gefeiert. Ein nebeliger Tag und es hat geschneit. Mein Bruder und ich verbrachten den ganzen Tag in unserem Zimmer, um Filme mit Louis de Funes zu sehen und Comics von Alan Ford zu lesen. Es war das letzte Familientreffen. Panzer aus Belgrad kamen Sarajevo immer näher. Schon im Frühling klingelte ständig das Telefon. Die Spieler haben sich an ihren Chef gewandt. Einige fragten ihn, ob sie bei der Europameisterschaft in Schweden spielen müssten, einige hatten ihre Teilnahme bereits abgesagt. Ich hatte die Gelegenheit, viele dieser Gespräche mitzuverfolgen, oftmals kam ich deswegen zu spät in die Schule. An seinem Geburtstag am 6. Mai haben wir ihm sechs große Bücher geschenkt, voll mit Zeitungsartikeln aus seiner langen Karriere. Mein Vater sammelte sie akribisch. Jahrzehntelang. 16 Tage später, am 22. Mai, haben wir alle geweint. Er traf eine Entscheidung, leise, niemand hatte davon gewusst. Nicht einmal mein Vater, der ihm sehr nahe stand. Dad chauffierte den Chef nach Terazije, in die Räumlichkeiten des Fußballverbandes. In der Annahme, es handle sich um eine ganz normale Pressekonferenz.
Danach geriet seine, aber auch meine ganze Welt aus den Fugen. Die Kindheit war mit einem Schlag endgültig vorbei. (Anmerkung: Ivica Osim trat an diesem Tag mit den Worten „Es ist das Einzige, was ich für meine Stadt tun kann. Sie sollen sich erinnern, dass ich aus Sarajevo komme. Sie wissen was dort passiert“ als Teamchef von Jugoslawien zurück) Mir war klar, dass er nun weggehen würde und dass wir ihn lange nicht mehr sehen werden. Und so kam es auch. Erst 1999 in Sarajevo trafen wir uns wieder. Nach über 25 Jahren befindet sich die Ausstattung der jugoslawischen Nationalmannschaft für die EURO 1992 immer noch im Kleiderschrank meines Vaters. Unberührt. Ivica Osim setzte seine magische Fußballreise über Athen, Graz und schließlich Japan fort. Er lebt immer noch in unseren Herzen. Wie ein Mythos. Heute sind unsere Wege wieder vereint. Schicksalsträchtig. Wir leben heute wieder in der gleichen Stadt. In einer Straße, die nicht seinen Namen trägt. Aber sie sollte es!
Über den Autor: Bojan Mustur, 1981 in Belgrad geboren, wurde nach Beendigung seines Studiums im Jahr 2008 Mitglied beim Verein der Schönen Künste in Sarajevo, ist Fotograf, Graphik-, Web- und Videodesigner, sowie der Kopf eines der wichtigsten Theaterfestivals im südosteuropäischen Raum und neuerdings auch in diesem Bereich in Doha tätig. Der verhinderte Fußballprofi arbeitete zudem als Polo- und Wasserballcoach und präsentierte seine Werke schon in über 40 Ländern.
Ja, Hammer oder 🙂
I glaub jeder Sturm-Fan muss jetzt neidig sein etwas..wie krass muss das sein, diesen unglaublichen Menschen in deiner direkten Verwandtschaft zu haben! Allein der Gedanke erfüllt mi brutal mit Ehrfurcht..
Beklemmend und wunderschön zugleich. Osim ist und bleibt der Größte. Egal ob für die Leute in Belgrad, Sarajevo, Strasbourg, Graz, Ichihara bzw. ganz Japan. Überall wo er gewirkt hat, hat er unauslöschliche Spuren hinterlassen.
Wunderbar. Danke!
Eine schwarz – weiße Liebesgeschichte im wahrsten Sinne des Wortes.
Vielen Dank, auch und vor allem den Übersetzern für die blumenreiche Sprache.
Mir als Normalsterblichen fehlen die Worte um ihn zu beschreiben. Er kennt das Leben und die goldene Mitte. Fussball ist nur ein nettes, kleines Spielzeug, welches er halt gerne mag. Er meidet den Auftritt im Sonnenschein und stellt trotzdem alles in den Schatten. Alles Gute Legende