Ein Professor als Brückenbauer – das Jugoslawien des Ivica Osim
„Jemand, der die ganze Macht in seiner Hand hat, weiß, dass er viele zufriedenzustellen hat, wenn aber viele regieren wollen, dann liegt deren Fokus darauf, sich selbst zufriedenzustellen. Somit entsteht eine stupide Gewaltherrschaft mit einem Mehr an Hass – als Freiheit maskiert.“ Vielleicht kann dieses Zitat von Literaturnobelpreisträger Luigi Pirandello die Idee eines ursprünglich konstruierten Staates zusammenfassen, der irgendwann idealisiert, schlussendlich aber durch Gewalt von innen zerstört wurde. Eines Staates, mit seinen ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten: sechs Republiken, fünf Nationen, vier Sprachen, drei Religionen, zwei Alphabete, ein Tito. Es war der Tod des Marschalls an einem Sonntag im Mai, der den Anfang vom Ende einleitete und mehr als nur symbolisch für den Zusammenbruch eines Regimes steht. Von da an wurde man kategorisiert, ob man zu Hajduk oder Roter Stern hält. Zeitgleich aber brach auch eine Phase an, die man heute noch als das Goldene Zeitalter des jugoslawischen Fußballs bezeichnet. Den Ursprung des Wahnsinns am Balkan kann man direkt auf den Sport und deren Protagonisten in der Nationalmannschaft umlegen. Diese war in jener Zeit eine Ansammlung von vielen Genies, fußballerischen Anarchisten mit massig Talent, aber auch einer gehörigen Portion Wahnsinn. Mit dem Ausbruch des Konflikts wurde all das, was dieses Land ausmachte, all diese vielen Begabungen, in einen Schlachthof der Geschichte verwandelt.
Kann die Identität eines Volkes durch das Tragen eines gemeinsamen Trikots widergespiegelt und eine Deckungsgleichheit der unterschiedlichsten Ethnien erreicht werden? Durchaus. Das tiefblaue Hemd galt für viele als Synonym für das Schöne im Fußball, das allerdings wenige Schritte vor dem ersehnten Ziel immer wieder zu Fall kam. Auch als atypisch gegenüber der Sportkultur des restlichen sozialistischen Blockes, wo es ansonsten galt, fokussiert zu sein auf den taktisch-disziplinären Rahmen, Sport als Wissenschaft zu sehen und jegliches individuelles Talent hintantzustellen. Diese Faktoren waren treibende Kraft und Limit zugleich. Die Nationalmannschaft von Jugoslawien war die Ausnahme der Regel. Nicht umsonst wurde den Blauen, der „Plavi“, auch der Beiname „Die Europäischen Brasilianer“ verliehen. Vielleicht das bekannteste Pseudonym im zeitgenössischen Fußball – das jogo bonito des alten Kontinents.
An Erfolgen gemessen jedoch hatten die Blauen mit der Seleção so gar nichts gemein. Bei der WM 1962 in Chile gelang der Einzug in das Viertelfinale, 1968 erreichte man das EM-Endspiel in Italien, dazu gelangen einige gute Auftritte bei der Weltmeisterschaft 1974, ansonsten aber funktionierte wenig. Stets stand die Plavi für das Unvollendete. In den 80er-Jahren allerdings schien dies alles zunächst vergessen worden zu sein, als man mit einem talentierten Team zur Endrunde in Spanien reiste. Erst recht, da man in der Qualifikation den zukünftigen Weltmeister Italien in die Schranken weisen konnte. Eine kurzlebige Illusion, die man mit einem sinkenden Schiff vergleichen kann. Bereits in der Gruppenphase strich das Nationalteam von Jugoslawien die Segel. Ein symbolträchtiges Scheitern. Der unendlich begnadete Spielmacher Safet Sušić vermochte es in einer in drei Fraktionen separierten Gruppe nicht, die Zügel in die Hand zu nehmen. Vor allem die serbokroatische Fraktion hatte ein zu großes Gewicht im Vergleich zu den bosnischen Frankreich-Legionären Edhem Šljivo, Vahid Halilhodžić und Sušić selbst, die eigentlich das Zeug gehabt hätten, zu echten Leithammeln im Team zu avancieren.
Ob der internen Gräben sowohl in der Mannschaft als auch auf Funktionärsebene und des sich nach Titos Tod bereits ankündigenden politischen Trommelwirbels kam es im Sommer 1986 zu einer Trendwende in Gestalt des neuen Teamchefs Ivan Osim. Geboren in Sarajevo während des Zweiten Weltkrieges, exakt einen Monat nach der Invasion Jugoslawiens durch die Wehrmacht, sollte jener Mann, der erfolgreich ein Mathematikstudium an der Universität in Sarajevo absolviert hatte, Jugoslawien zu neuen Ufern führen. „Ivica der Professor“ verfügte über eine angeborene Managementfähigkeit sowie das Know-how, eine Gruppe verschiedener einzelner Ausnahmekönner und außerordentlicher Genies zu führen und zu vereinen. Vorbei sollte es nun sein mit den deprimierenden Ergebnissen auf internationaler Bühne, stets mit Akteuren, die Fußballfachleute mit der Zunge schnalzen ließ. Nicht bloß Sportler, sondern echte Künstler, die sich aber nicht und nicht – so schien es – zu einem Team verschmelzen ließen. Ein Faktor, der eindeutig die Achillesferse dieser Mannschaft war. Kein Wunder, dass die Inauguration zum jugoslawischen Nationaltrainer stets mit einem Gang zu einem Schlachtfeld verglichen wurde.
Ivica Osim hatte von Anfang an genaue Vorstellungen, wie er den Grundstein für ein ob der Geschichte scheinbar unrealisierbares Projekt mit der jugoslawischen Nationalmannschaft legen musste: Die Basis war es, ein Kollektiv aus jungen, durch das damalige politische Klima gespaltenen Menschen zu prägen, Teamgeist zu ersinnen und zu einer Einheit zu formen. In dieser ob Grund des fehlenden Zusammenhalts der einzelnen Teilrepubliken so verletzlichen Mannschaft sollte dadurch ein Spirit einziehen. Fern der Begegnungen in der jugoslawischen Liga, wo Spiele als Stellvertreterkriege am Feld herhalten mussten. Negativer Höhepunkt war sicher, als im Jahr 1990 ein Spiel von Dinamo Zagreb gegen Roter Stern Belgrad aufgrund von Ausschreitungen erst gar nicht angepfiffen werden konnte.
Ein Krieg braucht immer einen Auslöser. Meiner Meinung nach war dieser zu gering. Aber dennoch: Alles hat mit diesen Ausschreitungen begonnen. – Ivica Osim¹
Schon beim Aufwärmen kam es auf den Tribünen des Maksimir-Stadions zum Aufruhr, die Spieler von Roter Stern – rund um Kapitän Dragan „Piksi“ Stojković – flüchteten in die Kabine, während einige Dimamo-Kicker am Feld blieben. Als Zvonimir Boban einen Polizisten mit Fußtritt attackiert, wird er an diesem Tag in Kroatien zum Sinnbild für den Aufstand gegen das Belgrader Regime. Erst Jahre danach erfuhr der spätere AC-Milan-Star, dass es sich beim Ordnungshüter – Ironie der Geschichte – um einen Kroaten handelte.
Für viele gelten diese Ereignisse als Synonym für den endgültigen Zerfall Jugoslawiens. Osim war an diesem Tag nicht im Stadion, sondern beim Spiel zwischen Hajduk Split und Partizan Belgrad. Auch dort kam es zu Ausschreitungen. Eine Ära ging zu Ende, ohne dass jemand wusste, was folgen würde. Die Staatskrise, die sich in den vergangenen Jahren Hand in Hand mit einer Wirtschaftskrise und der zunehmend nationalistischen Mobilisierung unter Slobodan Milošević in Serbien und Franjo Tuđman in Kroatien angebahnt hatte, offenbarte sich an diesem 13. Mai 1990 dem In- und Ausland in ihrer ganzen Tragweite: Der jugoslawische Staatsapparat beherrschte das Land nicht mehr. Gestalten wie Željko Ražnatović, alias Arkan, gründete aus den Reihen der Roter-Stern-Hooligangruppierung Delije die paramilitärische Serbische Freiwilligenarmee Srpska Dobrovoljačka Garda. Der einstige Haufen der Ultras aus dem „Marakanà“ sollte im Krieg zum Hauptprotagonisten von ethnischen Säuberungen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen werden und Bosnien sowie Kroatien bluten lassen. Die sogenannte Tigereinheit galt als eine der grausamsten des gesamten Balkankonflikts.
Vier Jahre zuvor startete Ivica Osim die komplexe Mission und bereits in der Qualifikation zur Europameisterschaft 1988 wurde sein Ehrgeiz auf eine harte Probe gestellt. Am 11. November 1987 lag Jugoslawien in Belgrad schon nach 25 Minuten gegen England mit 0:4 zurück und der erhoffte Traum vom Gruppensieg war ausgeträumt. Ein arger Dämpfer, doch Osim ließ sich nicht beirren, auch wenn es die Losfee zwei Jahre später erneut nicht gut mit seinem Team meinte: Schottland (zuvor vier Mal in Folge für eine WM qualifiziert) sowie Frankreich (1986 in Mexiko erst im Halbfinale von Deutschland im Elfmeterschießen gestoppt) hießen die Brocken auf dem Weg nach Italien. In den Redaktionsstuben zwischen Marburg und Skopje setzte man keinen Dinar auf die eigene Nationalelf, zu unerfahren sei die Auswahl, um sich gegen solche Gegner durchsetzen zu können. Tat sie dann aber und die Plavi qualifizierte sich als Gruppensieger für die Endrunde am Stiefel. Noch heute gilt eine Maßnahme als bahnbrechend für diesen Erfolg: Die Politik entschied genau in dieser Ära, Spielern zu gestatten, sich bereits nach dem 25. Geburtstag und abgeleistetem Wehrdienst auf den Weg in das westliche Ausland zu machen. Ein Anreiz für eine ganze Generation an Balkankickern. Fast zeitgleich krönte sich die U20-Auswahl in Chile zum Weltmeister, mit so klingenden Namen wie Robert Jarni, Igor Štimac, Zvonimir Boban, Robert Prosinečki, Predrag Mijatović oder Davor Šuker. Ein Goldenes Zeitalter, so hieß es, sei nun endgültig angebrochen.
Das zu gleichen Teilen schöne wie tragische Jugoslawien erinnert als Ganzes an einen Roman aus der Feder von Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić, der 1961 die Charakteristik dieses Staates treffend in seinem Werk „Die Brücke über der Drina“ zeichnete. Er beschreibt den Übergang als einen Ort des Zusammenlebens unterschiedlichster Nationen und Religionen in der Gegend rund um Višegrad. Als einen Ort der Gemeinschaft, an dem sich verschiedene Kulturen und ethnische Gruppen begegnen. Unterschiede und verschiedene religiöse Ansichten werden außen vor gelassen, es geht den Menschen bloß um gemeinsame Erinnerungen an eine Stadt, die sie als Kinder mit gleichen Freuden und gleichem Leid geteilt haben. Was Individuen demnach vereint, repräsentiert die tatsächliche Überwindung ethnischer und ideologischer Gegensätze. Doch das Buch endet mit der Sprengung der Brücke durch die sich vor den Serben zurückziehende österreichische Armee, als die Drina im Ersten Weltkrieg zur Frontlinie wird.
War die jeweilige Umkleidekabine der Nationalmannschaft nicht auch so ein Fleck wie die von Andrić geschilderte Brücke? Ein Platz, in dem zunächst ein gemeinsames Schicksal im Vordergrund stand? Und war die Qualifikation für die WM 1990 nicht auch ein eben solches Wunder wie jenes von Višegrad? Ich sage ja! Durch einen 3:2-Sieg über die Franzosen in Belgrad und ein Unentschieden in Paris erreichte Osims Team jenen Status der dortigen Bewohner. Allen 22 Fußballern, die Jugoslawien in Italien präsentierten, gelang es, jegliche ethnische, nationale und religiöse Gegensätze zu überwinden. Für ein gemeinsames Schicksal: die Chance, bei der Fußball-WM-Endrunde Magisches zu erreichen.
Intensiver als je zuvor sollte sich Jugoslawien im Frühjahr 1990 auf die WM-Teilnahme vorbereiten. Und wie nie zuvor spiegelte Osims Kader entgegen jedwedem Druck von Seiten der Politik und der nationalen Medien seine Vorliebe für Multikulturalismus wider: Der Zagreber Torhüter Tomislav Ivković, Paris Saint-Germain-Stürmer Zlatko Vujović, ebenfalls Kroate, aber in Sarajevo geboren, die kroatischen U-20-Weltmeister Robert Jarni und Alan Bokšić, im Zentrum Pedrag Spasić und der Zehner schlechthin, „Piksi“ Stojković, beides Serben. Dazu noch so unendlich wertvolle Spieler, deren bosnische Herkunft eindeutig am Familiennamen erkennbar war, wie Routinier und Abwehrchef Faruk Hadžibegić, Refik Šabanadžović und der mit Weltmeisterschaften eine Rechnung offen habende Safet Sušić. Nicht minder elementar: Roter-Stern-Goalgetter Darko Pančev und Frankreich-Legionär Dragoljub Brnović aus Mazedonien, der zukünftige AC-Milan-Spielmacher Dejan Savićević aus Montenegro und Sampdoria Genuas slowenischer Leader Srečko Katanec. Ein Konstrukt, zugespitzt auf einen erst 21 Jahre alten, in Süddeutschland geborenen Blondschopf und wie einst Osim mit den Spitznamen „Švabo“ (Deutscher) und „Žuti“ (Blonder) versehen: Robert Prosinečki. Der Sohn eines kroatischen Vaters und einer serbischen Mutter galt als der Mann für den tödlichen Pass und sollte letztendlich auch zum besten Nachwuchsspieler des Turniers gewählt werden. Osim gelang es in einem der schwierigsten Momente, die Jugoslawien je erlebt hatte, ein Mosaik zusammenzufügen. Eine verschworene Einheit repräsentierte ein längst gespaltenes Volk.
Einen Monat vor der WM bestritt Jugoslawien gegen die Niederlande einen letzten WM-Test im Maksimir-Stadion. Während zu den Klängen von „Het Wilhelmus“ tosender Applaus aufbrannte, ertönte beim Abspielen der jugoslawischen Hymne ein gnadenloses Pfeifkonzert, gepaart mit Beleidigungen gegenüber serbischen Spielern. Selbst Osim blieb von Anfeindungen nicht verschont und reagierte darauf mit einer resignierenden Handbewegung. Für die Blauhemden wird es nichts anderes als ein Auswärtsspiel in einer aufgeheizten Atmosphäre. Faruk Hadžibegić bleibt nur noch, seine Mitspieler mit dem Ruf „Elf gegen 20.000, los geht’s!“ anzustacheln. Osims Spieler wollten sich dem Schicksal nicht fügen, wirkten unerschütterlich, auch wenn Dejan Savićević während der Pfiffe im Maksimir Grimassen in Richtung des kroatischen Publikum zog.
Das war typisch für diese Mannschaft. Sie wollte zeigen, dass man sie nicht so leicht unter Druck setzen kann, vor allem nicht unter politischen Druck. – Ivica Osim¹
Jugoslawien startet in Mailand mit einem 1:4-Debakel gegen Deutschland, doch das Team findet immer besser ins Turnier. Zwar hat das Land zu dieser Zeit ganz andere Probleme, trotzdem begleiten viele jugoslawische Zuseher ihre Mannschaft nach Italien. Und auf den Tribünen in Bologna, Verona, Mailand und Florenz wehen die Fahnen eines Landes, das nur noch auf dem Papier existiert. Die nationale Presse jedoch beschuldigt den Trainer der falschen Taktik, der falschen Aufstellung, ja sogar, dass er dem Alkohol nicht abgeneigt sei. Nachdem Kolumbien und die Vereinigten Arabischen Emirate besiegt werden und Jugoslawien in das Achtelfinale einzieht, greift Osim vor versammelter Journaille zum Mikrofon: „Ich persönlich betrachte mich als einen einfachen Beamten, der beim alleinigen Verdacht, Alkoholiker zu sein, vor die Tür gesetzt würde. Dass ich hier bin, liegt an den FIFA-Bestimmungen, nicht an Ihnen.“
Im Achtelfinale besiegt Jugoslawien Spanien durch zwei Tore des Serben Stojković und zieht in die Runde der letzten Acht ein, wo man auf Titelverteidiger Argentinien trifft. Trotz einer Roten Karte für Šabanadžović bereits nach 31 Minuten ist das Osim-Team 120 Minuten überlegen, ein Treffer jedoch bleibt ihnen verwehrt. Beim Elfmeterschießen hält Tomislav Ivkovic im Stadio Artemio Franchi die Elfmeter von Pedro Troglio und Superstar Diego Maradona, da jedoch sowohl Stojković, als auch Brnović, vom Punkt Nerven zeigen, muss Faruk Hadžibegić den zehnten Penalty verwerten, um die Niederlage abzuwenden. Er zieht die Blicke aller Serben, Kroaten, Slowenen, Montenegriner, Mazedonier und Bosnier auf sich. Sergio Goycochea hält den halbhoch geschossenen Ball. Nur einer schaut nicht mehr hin: Trainer Osim bedankte sich nach 120 Minuten bei seiner Mannschaft und war bereits in der Umkleidekabine verschwunden. An den Reaktionen des Publikums erkennt er dort, dass die WM für seine Mannschaft beendet war. Den Spielern macht er keinen Vorwurf, empfand er doch ein Elfmeterschießen stets als ein Art Straflotterie.
Viele sind so weit gegangen, zu glauben, diese Mannschaft könnte Jugoslawien retten. Schön wär es gewesen. Aber wie hätten wir das schaffen können? Da hätten wir schon Weltmeister werden müssen. – Ivcia Osim¹
Nach der WM meint Osim noch, Jugoslawien wird in der Lage sein, die kommende Europameisterschaft zu gewinnen, „sofern sie es nicht zuerst abreißen“. Das Land ist aber schon vor seinem Fußballteam zusammengebrochen und der Teamchef unmittelbar von den Kriegswirren betroffen. Zuerst verkündet der Slowene Katanec auf politischen Druck hin seinen Abschied vom Nationalteam, später folgen ihm die Kroaten, dann die Mazedonier. Im November 1991 gelingt den Plavi dennoch souverän die Qualifikation für die EM-Endrunde, an eine Teilnahme glaubt aber schon da kaum noch jemand. Auch wenn sich die UEFA lange zu keiner definitiven Entscheidung durchringen kann. Als kurz vor dem Abflug nach Schweden die serbische Armee Sarajevo belagert, dort, wo Osims muslimische Frau und seine Tochter noch immer wohnen, tritt der letzte Teamchef Gesamt-Jugoslawiens, Bosnier mit kroatischen Wurzeln, vor die Presse, zeigt seine Verbundenheit zu seiner Heimatstadt und erklärt seinen Rücktritt:
Mein Rücktritt ist das Einzige, was ich für meine Stadt tun kann. Sie sollen sich erinnern, dass ich aus Sarajevo komme. Sie wissen, was dort passiert. – Ivica Osim
Fast vier Jahre wird die Belagerung seiner Heimatstadt andauern, nur über Funk kann er sporadisch Kontakt zu seiner Familie halten. Ende Mai kommt für Jugoslawien durch die UN-Resolution 757 die endgültige Turnierabsage, der Qualifikations-Gruppenzweite Dänemark rückt nach und wird sich in Schweden sensationell zum Europameister krönen. Einen Monat nach dem Finale heuert Osim bei Panathinaikos Athen an.
Was wäre passiert, hätten die jugoslawischen Teamspieler am 30. Juni 1990 ihre Nerven im Zaum gehalten? Hätte ein WM-Titel das Gemetzel verhindern können? Waren Ivicas Osims dahingehende Gedanken bloße Spekulation? Oder sollten für den letzten Akt Jugoslawiens die Worte des deutschen Philosophen Hegel Gültigkeit haben: „Es ist so geschehen, daher ist es Schicksal.“ Trotzdem soll man stets hinterfragen und nie vergessen, für welchen Zweck das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend des Einzelnen auf das Spiel gesetzt wurden und wegen welchem Endziel solch enorme Opfer erbracht werden mussten.
Ich wurde als Jugoslawe erzogen und wenn die Leute mehr an das Land, an die Einheit gedacht hätten, wäre das nie passiert. Die Frage, ob du Serbe, Slowene, Montenegriner, Bosnier oder Kroate bist, ist unsere große Tragödie. – Ivica Osim¹
Über den Autor: Vincenzo Campitelli, 1980 in Rom geboren, ist Universitätsprofessor für Italienisch, Latein und europäische Geschichte sowie italienischer Honorarkonsul im südkoreanischen Busan. Er interessiert sich für Sprachen, Politik und Zeitgeschichte und kombiniert seine Vorlieben mit der Geschichte des Weltfussballs. Seine Leidenschaft gilt unter anderem auch dem Subbueteo, einem aus England stammenden Tisch-Fußballspiel. Ivica Osim gilt für Campitelli als die Schlüsselfigur, um die Geschichte des jugoslawischen Fußballs zu verstehen.
Unglaublich guter Artikel ! Ewig schade um diese Mannschaft, um dieses Land..
vielen, vielen dank fürs bereitstellen dieses artikels! wirklich sehr lesenswert!
Solche Artikel machen den kleinen, aber äußerst feinen, Unterschied aus. Großartig. Vielen Dank.
Man muss Fußball ziemlich tief in seinem Herzen tragen um so einen Artikel zu verfassen. Ein interessanter Blickwinkel und mehr als lesenswert. Danke.
Ein absolutes redaktionelles Hightlight.