Der Tango Argentino wurde nur in einem Spiel getanzt

Das Jahr 1989 war eines der chaotischsten in der Geschichte des Sportklub Sturm. Zwar konnte im Frühjahr mit Rang eins in der Mittleren Play-Off souverän die Klasse gehalten werden, aber der zurückliegende katastrophale Herbst weckt noch immer Animositäten. Als „Millionen-Elf“ tituliert, und mit dem Wunsch, in der Meisterschaft endlich ein Wörtchen mitzureden, gestartet, können die zahlreichen kostspieligen Neuzugänge wie Jürgen Werner oder Georg Zellhofer in keinster Weise die Erwartungen erfüllen. Zurück bleibt nur ein dickes Minus in der Bilanz und Zwistigkeiten in der Klubführung. Atmosphärische Dissonanzen, die einen gewissen Hannes Kartnig auf den Plan rufen. Der Werbeunternehmer, drei Jahre zuvor mit einer pompös angekündigten Hallen-Europaliga samt Austragungsorten Wien, Dortmund, Zürich und Paris arg gefloppt, will es im Geschäft mit dem runden Leder nochmals wissen und erzwingt im Juli eine Generalversammlung, aus der er als Sieger herausgehen will, überzeugt davon, endlich das Heft am Jakominigürtel an sich reißen zu können. Sein größter Trumpf ist die Haushaltsgeräte-Firma Neff, die er als zukünftigen Hauptsponsor an der Angel hat und ein Direktorium von fünf Personen, von denen jede 500.000 Schilling in den Verein einbringen würde.
 
Doch mit Vollmachtstimmen von nicht anwesenden Mitgliedern – ein juristisch damals umstrittener Kniff – wird der Kartnig-Übernahme Paroli geboten und ein Kompromiss-Vorstand rund um Werner Mörth an der Spitze gewählt. Um den beträchtlichen Teil der Mitglieder, die pro Kartnig sind, weiterhin mit im Boot zu haben, wird Kartnig trotzdem in den Vorstand gehievt und Charly Temmel übernimmt die Rolle des Kassenchefs. Dem Trainer Otto Baric – glühender Anhänger der großspurigen Kartnig-Pläne – ist dieser Kompromiss allerdings ein zu fauler und er tritt noch Ende Juli zurück. Anstelle des Kroaten präsentiert man in einer Blitzaktion Gustl Starek als neuen Coach. Sportlich läuft es zu Beginn der Saison jedoch nicht rund. Nach neun Runden hält man bei erst einem Sieg, zudem herrscht in der Offensive Handlungsbedarf, da sich sowohl Harald Krämer, als auch Walter Schachner, schwer verletzt hatten. 

 

Diaz mit Maradona (c) Wikimedia Commons

Ein gewisser Jorge Diaz wird verpflichtet. Argentinier aus Rosario, wo sie ihn – aufgrund seines guten Auges und seines Gespürs für den richtigen Zeitpunkt – „Pestana“ rufen. Mit elf brachte ihn sein Vater zu Rosario Central, wo er alle Nachwuchsmannschaften durchläuft und wohin er beinahe täglich ins nur zwölf Kilometer vom Elternhaus entfernte Estadio Gigante de Arroyito radelt1985 mussten die Blau-Gelben runter in Liga zwei, um danach direkt wieder aufzusteigen und sich als erstes und bislang einziges Team gleich im ersten Jahr nach dem Wiederaufstieg die argentinische Meisterschaft zu holen. Justament in jener Saison schafft Diaz 21-jährig unter Klublegende Ángel Tulio Zof den Sprung in die Kampfmannschaft und gewinnt anschließend auch noch im „Duelo de Campeones“ gegen den SSC Napoli rund um sein großes Idol Diego Maradona mit 1:0. Obwohl Diaz als echter Zehner zumeist mit der Rückennumer 9 aufläuft, ist dieser Triumph Motivation genug, sich diegogleich auch am schon damals gelobten Fußball-Kontinent Europa durchzusetzen. Argentiniens Weltmeister-Trainer 1978, Cesar Luis Menotti, rührt dort für ihn eifrig die Werbetrommel, der von den Boca Juniors unterschriftsreif vorgelegte Vertrag lässt ihn kalt. Auch die Wiener Austria hatte bereits ihre Fühler nach Pestana ausgestreckt. Doch über einen Mittelsmann – den Kärntner Spielervermittler Siggy Steindwender – landet er, nachdem Hannes Kartnig für dieses Unterfangen Geld aufstellt und sich bereit erklärt, das Gehalt des Argentiniers zu bezahlen, in Graz. 

 
Bei seinem Debüt gegen Rapid Wien kommen 10.000 Fans zum „Diaz-Schaun“ in die Gruabn. Der Linksfuß liefert einen glanzvollen Einstand ab, ist stets quirlig und treibt die beiden Hütteldorfer-Abwehrrecken Reinhard Kienast und Robert Pecl beinahe in den Wahnsinn. Zweimal bedient er den jungen Arnold Wetl mustergültig, doch dem Eibiswalder versagen im Abschluss die Nerven. Dass es letztendlich „nur“ beim 0:0 bleibt, liegt auch daran, dass der Legionär zwei Minuten vor Schluss ebenfalls alleine vor dem Tor stehend an Rapid-Goalie Michael Konsel scheitert. Doch schon eine Runde später sollte Diaz auch treffen. Sturm gewinnt in St. Pölten mit 4:0 und Diaz stellt dabei seinen Landsmann, den Torschützenkönig der WM 1978 Mario Kempes, völlig in den Schatten. Am Voith-Platz sorgt er mit einem Traumtor zudem persönlich für den Schlusspunkt. Es folgt ein 1:0-Sieg  gegen die Niederösterreicher im Rückspiel, eine 0:1-Auswärtsniederlage bei der Admira und ein glanzloses 0:0 zu Hause gegen den FC Tirol
 

Diaz im Spiel gegen die Vienna (c) Johann Dietrich

 

Anfang Oktober absolviert Diaz dann sein erstes Grazer-Stadtderby und prägt sich an diesem Tag für alle Zeiten  ins kollektive Gedächtnis der Sturmknofeln ein. Derbys kannte er aus seiner Heimat. Wenn in Rosario die Newell`s Old Boys auf Central treffen, befindet sich die Stadt in tagelangem Ausnahmezustand. Ausschreitungen, manchmal sogar Tote, stehen fast an der Tagesordnung. Ende der 80er-Jahre musste ein Spiel dieser beiden Kontrahenten aus Sicherheitsgründen sogar in Buenos Aires ausgetragen werden. Kein Wunder, dass ihm die 14.000 Zuseher, die sich zum Spiel Sturm gegen GAK in Liebenau einfinden, kaum beeindrucken können. Verwundert zeigt er sich höchstens darüber, dass es keinerlei Trennung der „feindlichen“ Fanblöcke gibt. Die Rotjacken kämpfen in diesem Spiel schon um das nackte Überleben und zeigen Nerven. In der siebenten Minute verliert Walter Sobl im Mittelfeld den Ball, „Haki“ Holzer schickt Jorge Diaz auf die Reise und der Argentinier überhebt Goran Zivanovic von der Strafraumgrenze aus. Dem Jugoslawen im GAK-Tor bleibt nichts mehr anderes zu tun, als wie angewurzelt und mit offenen Mund die Flugkurve des Balles zu bewundern. Das 2:0 erzielt der Argentinier via Außenrist, das 4:0 mit einem wuchtigen Freistoß. Dass Otto Konrad – einmalig in der Sturm-Historie – einen dem GAK zugesprochenen Elfmeter, gleich zweimal pariert (erst einen von Sobl, dann die Wiederholung von Slobodan Goracinov) geht aufgrund der 90-minütigen Diaz-Show fast unter. 

(c) SturmNetz

 

In Graz nennen sie ihn jetzt „Tschortschi„, doch der Derby-Sieg kaschiert nur kurzfristig andere Baustellen. Nach wie vor fehlt in Sturms Kader ein fitter, echter Stürmer. Zwar wird im Oktober Ragnar Margeirsson als solch einer präsentiert, doch der Isländer gab zuvor zeit seiner Karriere stets den Mittelfeldspieler. Zudem wird das Verhältnis zu Diaz Partner in Schaltzentrale, Ewald Türmer, immens getrübt. Zu oft bevorzugt der Argentinier Kabinettstückchen für die Galerie, anstatt zweckdienlicher Offensivaktionen. Als sich dann auch noch Hannes Kartnig mit Werner Mörth verkracht, da der spätere Sturm-Präsident in der Kleinen Zeitung Trainer Starek öffentlich an den Pranger stellt, zehrt das am südamerikanischen Gemüt des Filigrantechnikers. Sowohl Mörth als auch Kartnig verlassen den Klub. Kartnig allerdings erst nach Erfüllung seiner Prämisse, die zweieinhalb Millionen Schilling, die er für Diaz vorgestreckt hat, retourniert zu bekommen. 

Turbulenzen, die sich auch auf die sportlichen Leistungen der Blackies auswirken: Diaz und Sturm sind bestenfalls nur noch Mittelmaß. Der kleine Spielmacher wirkt zunehmends lustlos und erscheint zu filigran für den damals noch rauhen Grätscheralltag in den Tiefen der österreichischen Bundesliga. In Runde 30 gegen den FC Tirol sollte zwar noch einmal das Genie des argentinischen Spielmachers aufblitzen, gleichzeitig aber auch sein Ende in Schwarz-Weiß eingeläutet werden. Am Strafraumeck kommt Diaz an den Ball, gaberlt sich die Kugel dreimal auf und setzt den Ball nach einer Drehbewegung unhaltbar für Teamtorhüter Klaus Lindenberger in das lange Eck. Später wiederholt er diese Aktion, trifft dabei die Stange und Didi Pegam kann zum 2:0-Endstand abstauben. Als er in Minute 71 aus taktischen Gründen ausgewechselt wird, schleudert er sein Trikot in Richtung Starek und stampft wutentbrannt in die Gruabn-Kabine. Er will nicht begreifen, gerade dann aus dem Spiel genommen zu werden, wo er doch endlich wieder so richtig in Fahrt ist. Danach ist es mit den grandiosen Auftritten der Zaubermaus vorbei. „Ich hab von da an nicht mehr gewollt und war kurz davor, die Freude am Fußball zu verlieren“, erinnert er sich an diese Zeit. 
 

 

Trainer Gustl Starek mit seinem Kapitän Mischa Petrovic (c) Johann Dietrich

 
Diaz düst zu einem Probetraining nach Nürnberg, verschrottet auf dem Weg dahin aber das Auto seines Gönners Hugo Egger – der Argentinier hatte samt Schwester in dessen Haus in Pischelsdorf Unterkunft gefunden – und lässt den Wagen einfach stehen. Sturm will – seit dem Ausstieg von Hannes Karnig vor allem kann – sich die Dienste der launischen Diva zukünftig nicht mehr leisten. Der Spielmacher absolviert noch Probetrainings in England und Italien, für ein Engagement reicht es aber nicht. Im Oktober 1990 taucht Diaz wieder auf Österreichs Fußballbühne auf, doch nicht in der Gruabn, sondern beim VSE St. Pölten. Für die Niederösterreicher erzielt er ein Goldtor gegen Rapid Wien, doch auch der Voith-Platz ist wahrlich nicht jener Ort, von dem man die großen Ligen Europas im Sturm erobern hätte können. Nach sechs Partien für die Schwarz-Blauen ist auch dieses Kapitel für Diaz beendet. 
 
Diaz  fliegt heim nach Südamerika und sollte nie mehr nach Europa zurückkehren. 1991 spielt er für den Racing Club in Argentinien, 1992 für die Millonarios in Kolumbien und 1993 für Veracruz in Mexiko. Seine erfolgreichste Zeit durchlebt er jedoch in Chile. Mit dem O’Higgins Fútbol Club, ansässig im zentralchilenischen Rancagua, erreicht er unter anderem dank eines Sieges gegen Marcelos Salas`Klub Universidad 1994 das Cupfinale und erzielt auch das Tor des Jahres im „langgestreckten Land“. Es folgen kurze Gastspiele bei Temuco und Puerto Montt, 1999 kommt er in Venezuela mit Deportivo Táchira zum zweiten und letzten Mal zu Meisterehren. Seine aktive Karriere lässt er wieder in Rancagua ausklingen, als er 2001 für eineinhalb Saisons erneut bei O`Higgins anheuert.
 
Nach vierzehnjähriger Wanderschaft kehrt er 2003 wieder in seine Heimat Rosario zurück. Sein einstiger Mentor Cesar Luis Menotti verschafft ihm einen Job bei Central, wo er seitdem im Betreuerstab in unterschiedlichsten Funktionen arbeitet und mittlerweile seit nun über 20 Jahren auf einen erneuten Titel der Blau-Gelben wartet.
 
Ewald Türmer, Jorges damaliger Partner im Mittelfeld, erinnert sich heute so an ihn: „Diaz war ein typischer Südamerikaner. Er konnte Spiele im Alleingang entscheiden und war technisch brillant. Doch er ließ sich in keinster Weise in ein taktisches Konzept pressen. Wenn Spiele auf der Kippe standen, war er für uns zumeist keine echte Hilfe. Er hat in seinen ersten Spielen für Sturm grandiose Leistungen abgeliefert, jedoch haben sich die Gegner mit der Zeit immer mehr auf Diaz einstellen können und folglich ihm einen kampfstarken Gegenspieler an die Seite gestellt, der ihn ordentlich auf den Zahn gefühlt hat. Ich erinnere mich an ihn als einen Spieler, der immer sehr freundlich war, aber sich wohl auch aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse sehr ruhig verhielt. Er hat für mich zumindest immer den Eindruck gemacht, dass er sich bei uns schon wohlgefühlt hat.“
 

Spieldaten:

GAK – Sturm Graz 0:4 (0:1)

15. Runde der Österreichischen Bundesliga, 10. Oktober 1989

GAK: Zivanovic; Sauseng, Vidovic, Zisser, Dihanich; Freisegger, Spirk, Gasselich, Pigel; Hasenhüttl (19. Nessl), Krinner.

Sturm: Konrad; Petrovic; Huberts, Kogler; Feirer (76. Kofler), Temm, Holzer, Diaz, H. Jurtin; Koschak (77. Knapp), Margeirsson.

Stadion Liebenau, 14.000 Zuschauer

Tore: 0:1 Diaz (7.), 0:2 Diaz (55.), 0:3 Temm (75.), 0:4 Diaz (89.)

Danke an Jorge Diaz, Ewald Türmer, Prof. Walter Kowatsch-Schwarz und Dr. Herbert Troger für ihre Hilfe beim Erstellen dieses Artikels.

 

BONUSTRACK: Das Tor des Jahres 1994 in Chile, erzielt von Jorge Diaz

4 Kommentare

  1. Fanatiker sagt:

    Erstmals Danke für den Bericht! War selber live im Stadion, einfach genial.

    Seinerzeit war es ein besonderes Flair Flutlichtspiele anzuschauen.

  2. Marchanno Diaz Rabihou sagt:

    „il genio“ war schon sehr geil, er war der erste schritt weg von der „schnalzertruppe“, sehr fein anzuschauen. leider konnte er nicht noch eine saison bleiben, dafür hat man gerne den „diaz schilling“ (10 Schilling Aufschlag beim Eintritt) bezahlt

  3. Arch Stanton sagt:

    Was genau bedeutet „Pestana“ und woher nimmt man die Zeit für die Recherche?

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