Der grüne Adler aus der Franzenstadt: Wie man sein Nest baut, so spielt man auch
Die Blütezeit des ungarischen Fußballs aus den 50er und 60er-Jahren ist längst verflogen und die Vereine unseres östlichen Nachbarlandes trachten der alten Glanzperiode nach. Gerade wegen ihrer reichen Historie kann es sich aber auszahlen, den magyarischen Traditionsklubs einen Besuch abzustatten. Auf der Straßenbahnfahrt zum Ferencváros-Spiel lernt man die halbe Fußballwelt des hauptstädtisch dominierten Landes kennen und bekommt eine Antwort auf die Frage, wie viele Budapester Mannschaften der SK Sturm Graz bereits aus dem Europacup geworfen hat.
Stadtrundfahrt für Fußballfans
Abseits ausgetretener Touristenpfade, weit entfernt vom imposanten Burgpalast und dem beeindruckenden Ausblick, der sich auf der Fischerbastei bietet, rattert an der Grenze zwischen den mittleren und äußeren Budapester Stadtbezirken die Straßenbahnlinie 1 tagein tagaus der Gürtelstraße entlang. Umringt von Plattenbauten, Bürokomplexen, Bahnstationen, Krankenhäusern und Imbissbuden legt sie inmitten von sechs Autospuren etwa 15 Kilometer zurück und überquert dabei sogar zweimal die Donau. Trotz ihrer Länge hat diese Hauptader des öffentlichen Nahverkehrs nicht wirklich viel Sehenswertes für den durchschnittlichen Städtetouristen zu bieten. Für Fußballfans aber dürfte sie in jedem Reiseführer stehen.
Denn entlang dieser Straßenbahnlinie befinden sich einige der interessantesten Fußballplätze Ungarns. Da ist es kein Wunder, dass ganz in der Nähe der ersten Station auch der älteste ungarische Fußballverein beheimatet ist: Der 1887 gegründete TVE aus dem dritten Budapester Gemeindebezirk Óbuda kämpft am eigenen Sportplatz um den lang ersehnten Wiedereinzug in die zweithöchste Spielklasse. Ein Besuch beim Regionalligisten kann sich auszahlen, denn die kleine Tribüne ist in der Regel gut gefüllt, die günstigen Schnitzelsemmeln vom Buffet sind knusprig und das Bier ist kühl. Außerdem wurde hier – um eine kleine Ähnlichkeit zu unserem Herzensklub zu erwähnen – ebenfalls ein TV-Experte zum Trainer berufen. Der ist jedoch keine Klublegende. Trotzdem wäre der TVE aus Óbuda mit seiner langen Geschichte und familiären Atmosphäre einen eigenen Artikel wert.
Aber heute sehen wir uns kein TVE-Spiel an, sondern steigen in die gelbe Einser-Bim und fahren vom mehrheitlich bürgerlichen Westufer in die Arbeiterviertel von Pest. Dorthin, wo die großen Klubs zu Hause sind. Der derzeit wohl kleinste Budapester Großklub ist übrigens Vasas (Aussprache: Wasch-asch). In der Vasas-Heimat, dem Fáy utcai Stadion, hat Sturm Graz 1968 das erste Europacup-Spiel seiner Klubgeschichte bestritten. In der Rückrunde 1969 kam es dann zum ersten internationalen Heimspiel in der Gruabn. Leider triumphierten die rot-blauen Budapester, doch es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass wir uns mit einer Mannschaft aus der „Perle an der Donau“ messen durften.
Damals eine mitteleuropäische Fußballgröße, ist Vasas heute kaum mehr über die Grenzen Ungarns hinaus bekannt. Der sechsfache ungarische Meister und siebenfache Mitropapokalsieger muss nämlich um den Wiederaufstieg in die erste Spielklasse ringen. Ein geschrumpfter Riese also, sicherlich mit viel Erzählstoff. Doch in der Gegend vom Vasas-Platz steigen wir noch nicht aus.
Die Bim fährt am Budapester Stadtpark vorbei und führt uns ein wenig später dorthin, wo gerade ein wahrer Fußballpalast gebaut wird: Die ungarische Regierung hat das Prinzip von panem et circenses nur allzu gut verstanden. Deshalb entsteht am Standort des alten Puskás-Stadions eine neue Riesen-Arena, in der 2020 bei vier EM-Spielen Platz für 67.889 Zuseher geboten werden soll. Befürworter sehen darin ein zukunftsträchtiges Infrastrukturprojekt, das nicht nur die Gegend, sondern den ganzen Standort Budapest im internationalen Vergleich aufwerten soll. Kritiker hingegen sprechen von einem überflüssigen Millionengrab in einem Land, wo mancherorts Handball und Wasserball die beliebtesten Sportarten sind. Sie möchten das Geld lieber in die dringend benötigte Renovierung von Schulen und Krankenhäusern stecken, was auch allen Fußballfans ein Anliegen sein sollte. Nur die Zukunft wird zeigen, als wie sinnvoll sich der Bau erweisen wird. Selbstverständlich wird auch der Neubau den Namen von Jahrtausendstürmer Ferenc Puskás tragen.
Ein paar Stationen später fahren wir am Zuhause des nächsten Traditionsklubs vorbei. Im Hidegkúti Nándor Stadion spielt nämlich MTK Budapest, der 23-fache ungarische Meister und Finalist des Europapokals der Pokalsieger aus dem Jahr 1964. Der Namenspatron dieser Spielstätte ist eine wahre Fußball-Legende. Nándor Hidegkúti war Teil der berühmten ungarischen Nationalmannschaft aus der goldenen Generation, die 1954 ins WM-Finale einzog. Er spielte damals als hängende Spitze, was als große Innovation galt. Allgemein war der ungarische Fußball zu dieser Zeit zukunftsweisend, da die Spieler ihre starren Positionen verließen und mehr Flexibilität ins Spiel brachten.
Der MTK-Platz ist für seine architektonisch fragwürdige Bauweise bekannt: Da man an der Stelle des alten Fußballplatzes unbedingt eine europataugliche Spielstätte errichten wollte, wurde die geographische Ausrichtung des Stadions im rechten Winkel gedreht. Als Resultat gibt es hinter den beiden Toren keinen Platz mehr für Tribünen, dort stehen jetzt einfach zwei Betonwände. Im Fernsehen sieht es komisch aus, live ist der Anblick etwas weniger schlimm. Der Ort, an dem man die Fankurve vermuten würde, fällt so jedenfalls der Europatauglichkeit zum Opfer.
Es gibt eigentlich nur zwei wichtige Stadien in Budapest, die nicht am Verlauf der Einser-Bim liegen. Jenes von Újpest (ja, der Verein, gegen den wir 1998 unsere glorreiche Champions League-Zeit mit zwei Siegen einläuten durften) und von Honvéd (jenes Honvéd, das wir 2008 aus dem UI-Cup geworfen haben, mitsamt Security-Skandal als bitteren Beigeschmack). Diese beiden Stadien kann man viel eher mit der U-Bahnlinie M3 als mit der 1-er Bim erreichen. Doch auch dort fahren wir heute nicht hin.
In der Höhle des Löwen, im Neste des Adlers
Wir steigen beim Budapester Volksgarten aus, genau an der Kreuzung zwischen Straßenbahnlinie 1 und der besagten U-Bahn M3. Denn hier befindet sich das (nicht nur aus ÖV-Sicht gesehene) Epizentrum des ungarischen Fußballs: Die 23.700 Zuseher fassende Groupama Arena ist die Heimat des ungarischen Rekordmeisters (29 Titel) und Messestädtepokal-Siegers aus dem Jahr 1965, dem Ferencvárosi Tornaclub („Ferentzwahroschi Tornaklub“), kurz Ferencváros oder FTC, der von Fans liebevoll Fradi genannt wird. Außerdem ist hier der Ort, an dem die Nationalmannschaft aktuell ihre Spiele austrägt und wo MOL Vidi (ehemals bekannt als Videoton) heuer die Europa-League-Begegnungen bestritten hat.
An derselben Stelle stand das nach Ballon d’Or-Gewinner und Fradi-Legende Flórián Albert benannte Vereinsstadion, welches 2014 durch diesen repräsentativen Kampfplatz ersetzt wurde. Vor der Pforte wacht ein riesiger, grimmig dreinblickender Adler aus Stahl, der seine Flügel spreizend einen Fußball in den Krallen hält. So lässt das Wappentier des FTC keinen Zweifel daran, wer hier die spielbestimmende Mannschaft sein will. Insgesamt wirkt das Stadion aufgrund seiner engmaschigen Metallumhüllung wie ein riesiger, Ehrfurcht gebietender Käfig. Die Aussage ist klar: Auswärtsteams sind hier, im eisernen Neste des stählernen Adlers, nur willkommen, um ihre Punkte abzugeben. 21 Zähler aus 9 Heimspielen (Stand Jänner 2019) geben der Bauweise größtenteils recht.
Die Arena kann übrigens nur mit einer Ferencváros-Klubkarte betreten werden, auf die man sein Ticket herunterlädt. Eintrittskarten in Papierform gibt es hier keine mehr. Um sicherzustellen, dass man auch wirklich der Karteninhaber ist, wird am Eingang sogar der eigene Handabdruck mit einem Venenscanner abgelesen. Diese drakonisch wirkende Sicherheitsmaßnahme ist das Ergebnis davon, wenn sich zu viele „Fans“ ähnlich unserem Becherwerfer zu lange zu viel Blödsinn erlauben durften. Dann wird nämlich genau geprüft, wer reinkommt und wer nicht.
Hat man das Drehkreuz aber endlich passiert, darf die angenehme Seite des Stadionbesuchs beginnen: Da man hier nur mit der Klubkarte bezahlt (aufladen nicht vergessen!), kommt man schneller zu seinem Bier und muss kein Kleingeld zählen. Von innen sieht das Stadion mit den grünen Kunststoffsesseln auch viel einladender aus als von außen, fast als hätte der grimmige Adler sein Nest mit gemütlichen Grashalmen gepolstert. Wir nehmen Platz auf der Tribüne, die Ultras singen sich ein, die Biertemperatur stimmt und auf der Videowall werden wie vor jedem Spiel die 29 Meistertitel abgezählt. Dann kommt die Klubhymne, die so freundlich klingt, dass sie fast schon zum Schunkeln einlädt. Vor den Toren der Arena zeigte der Adler seiner Krallen, hier aber zwitschert er uns ein Frühlingslied. Die Stimmung am Fradi-Platz war aber nicht immer so entspannt. Mehr dazu später.
Wer ist dieser Fradi?
“Fradi? Das klingt wie Freddie!” Das ist zumindest die erste Reaktion vieler Österreicher auf den Spitznamen des Fußballklubs. Fradi steht als Kurzform jedoch nicht für Frederik, sondern für Ferencváros, zu Deutsch “Franzenstadt”, dem nach Kaiser Franz II. benannten, neunten Budapester Gemeindebezirk. Ebendort wurde der Verein nämlich 1899 gegründet, die fünf grünen und vier weißen Streifen im Vereinswappen stehen daher in Summe für den IX. Bezirk.
Ferencváros war der Klub der unteren Budapester Mittelschicht, ein Verein der Kleinbürger und Kleinunternehmer. Als solcher galt er lange als der größte Konkurrent des großbürgerlichen MTK. Das bedeutendste Budapester Derby war bis zum zweiten Weltkrieg also nicht Grün-Weiß gegen Violett wie heute, sondern Grün-Weiß gegen Blau-Weiß. Der erste Meistertitel gelang den Franzenstädtern bereits im Jahre 1903, danach sollte es bis zur Saison 1929/1930 keinen anderen Fußballmeister geben, als Ferencváros (10 Mal) und MTK (13 Mal).
Der zweite Weltkrieg bedeutete für den MTK einen tragischen Wendepunkt. Bei dem Verein mit starker jüdischer Bindung kamen durch den Schrecken des Holocausts unzählige Spieler, Vereinsmitglieder und Anhänger ums Leben oder mussten emigrieren. Das ist eine tiefe Wunde in der Vereinsgeschichte, die nie ganz verheilen wird können. Zwar konnte der Klub seither noch viele Erfolge verbuchen, jedoch hat er nie mehr zu alter Größe zurückgefunden.
Für Fradi kam es nach dem Krieg, in der Ära der stalinistischen Rákosi-Diktatur, zu einer Zäsur. Gerade als Puskás, Hidegkúti und Kollegen die Welt mit ihren Ballkünsten verzauberten (Olympiasieg und WM-Finale), war Fradi den Kommunisten zu bürgerlich und landesweit zu populär. Die Vereinsfarben wurden zwangsweise in Rot-Weiß abgeändert und sogar der Name Ferencváros wurde durch ÉDOSZ (später Kinizsi) ersetzt. Obendrein hat man den FTC gezwungen, einige seiner besten Spieler an andere Vereine abzugeben. Während auch andere Teams von Namensänderungen und ähnlichen Maßnahmen betroffen waren, galt Ferencváros als der klare Verlierer der Zwangsmaßnahmen. So entwickelte sich der Verein für viele Ungarn zum fußballerischen Sinnbild kommunistischer Unterdrückung.
Nach dem Volksaufstand von 1956, als sich die eiserne Umklammerung des Regimes langsam löste und der vergleichsweise milde Gulaschkommunismus Einzug hielt, bekam Ferencváros seinen ursprünglichen Namen und die originalen Vereinsfarben zurück. Erfolge stellten sich wieder ein und Fradi manifestierte sich eindeutig als der beliebteste Fußballklub im ganzen Land. Der größte europäische Erfolg der grün-weißen Vereinsgeschichte gelang in ebendieser Epoche. Im Jahr 1965 gewann Ferencváros den Messestädte-Pokal, also den direkten Vorgänger des UEFA-Cups und der späteren Europa League. Flórián Albert bekam daraufhin den Ballon d’Or als erster und einziger Spieler, der Ungarn in seiner ganzen Karriere nie verließ.
In der Zwischenzeit avancierte Újpest, der violette Arbeiterverein aus dem vierten Budapester Gemeindebezirk, zum großen Liebkind der Regierung. Die Mannschaft, die zwischen 1969 und 1979 neunmal Meister wurde, etablierte sich daher als neuer Erzrivale der grün-weißen Adler aus der Franzenstadt. So entstand letztendlich das farblich deckungsgleiche Budapester Pendant zum Wiener Derby, das auch heute noch von großer Bedeutung ist.
Aufeinandertreffen mit TVE, Vasas oder Honvéd hatten nie denselben Stellenwert, wie die Duelle gegen Újpest. Selbst heute, wo Begegnungen mit MOL Vidi, der erklärten Lieblingsmannschaft Viktor Orbáns (von Sturm 2011 aus der CL-Quali geschossen), weitaus mehr spielerische Attraktivität ausstrahlen und daher als ungarischer Clásico gelten müssten, bleibt dieses Derby das meistgesehene und bedeutendste Spiel jeder ungarischen Saison.
Unruhestifter raus!
Die Franzenstädter Vereinsgeschichte blieb jedoch nicht komplett frei von dunklen und turbulenten Kapiteln. Nachdem 2004 noch das ungarische Triple geholt werden konnte, wurden große Erfolge des Klubs seltener und in den Medien häuften sich stattdessen die Negativmeldungen. 2006 wurde dem Verein aus finanziellen Gründen die Lizenz für die erste Spielklasse entzogen und so kam es zum Zwangsabstieg in die zweite Liga. Dort musste man bis 2009 verweilen, als endlich der Wiederaufstieg gelang. Seither waren es Teile der Anhängerschaft, die den Verein nicht sonderlich gut aussehen ließen. Rechtsextreme Spruchbänder, rassistische Schlachtrufe und physische Ausschreitungen einiger „Fans“ warfen jahrelang ein verheerendes Licht auf den ungarischen Rekordmeister. Nachdem der Klubführung lange nichts Besseres eingefallen ist, als sich von den Unruhestiftern vehement zu distanzieren, griff sie mit dem Bau des neuen Stadions zu schärferen Mitteln:
Wie bereits angeschnitten, muss sich jeder, der gerne einmal zu einem Fradi-Spiel gehen möchte, vorher an der Kassa anstellen und mit einem Lichtbildausweis registrieren sowie die Hand von einem Venenscanner ablesen lassen. Nur so bekommt man eine Vereinskarte und die Möglichkeit, sich ein Ticket auf diese Karte zu laden. Seither sind die größten Chaoten von der Tribüne verschwunden, doch das Reinkommen wird auch für den durchschnittlichen Stadionbesucher zur bürokratischen Hürde. Möchte man einen Freund zu einem Sturm-Spiel in Graz einladen, kauft man ihm einfach online ein Ticket und geht gemeinsam ins Stadion. Um dasselbe in Budapest zu tun, muss der Freund sich erst einmal beim Schalter anstellen und ausweisen.
Nach der Einführung der Venenscanner entschieden sich einige Fangruppen, das Stadion und alle Heimspiele darin zu boykottieren. Ihre Begründung war, dass man sie in diese Änderungen nie mit eingebunden hatte. Dadurch fand die sportliche Rehabilitation unter dem deutschen Trainer Thomas Doll (dreifacher Pokalsieger 2015-2017, Meister 2016) vor einer fast leeren Fankurve statt. Inzwischen haben sich die ferngebliebenen Ultras mit der Vereinsführung geeinigt und die schwarzen Schafe in den eigenen Reihen wurden weitestgehend ausgeschlossen. Der berüchtigte B-Sektor singt wieder und das ohne geschmacklose Ausuferungen. Nur der 30. Meistertitel hätte die gebührende Krönung für die Rückkehr an die sportliche und stimmungstechnische Spitze sein dürfen, doch letztes Jahr hat ihn MOL Vidi noch weggeschnappt.
Beim Europa-League-Qualifikationsspiel gegen Maccabi Tel Aviv im Juli 2018 setzte der Verein ein wichtiges Zeichen, um sich von den Ausuferungen der Vergangenheit zu distanzieren. Vor Anpfiff gedachte man der Vereinslegende István Tóth, einem ehemaligen Spieler und Trainer, der im zweiten Weltkrieg hunderten jüdischen Mitbürgern das Leben rettete und später von den Nazis hingerichtet wurde. Das gesamte Stadion applaudierte vor den Augen des Vorsitzenden des Nationalrats der jüdischen Gemeinden in Ungarn. Ein wichtiges Zeichen in einem Land, wo der beliebteste Fußballverein eine große Vorbildwirkung einnehmen kann.
Ist ungarischer Fußball überhaupt sehenswert?
Der ungarische Fußball hat ein riesiges Imageproblem. Faktoren wie die unrühmliche Verquickung von Sport und Politik, das traditionsfeindlich-arrogante Mäzenatentum einiger Klubbesitzer sowie verbale und körperliche Entgleisungen unzähliger selbsternannter “Fans”, die damit die gesamte Anhängerschaft ihrer Vereine in ein schlechtes Licht rücken, sind den Sympathiewerten nicht gerade dienlich. Das alles gepaart mit einer schwachen sportlichen Leistung und der Konkurrenz durch andere attraktive Sportarten führt dazu, dass die vielen frisch renovierten Stadien nie wirklich voll sind. Wenn wir uns ehrlich sind, kennen wir einige dieser Faktoren auch aus dem heimischen Fußball, doch das macht die Lage nicht besser. Im Vergleich zu unserer Bundesliga ist die große Stärke des ungarischen Fußballs übrigens, dass dort nicht schon am Saisonanfang feststeht, wer Meister wird. Drei unterschiedliche Titelgewinner in den letzten drei Jahren sprechen Bände, auch wenn die spielerische Anziehungskraft oftmals sehr viel zu wünschen übrig lässt.
Wenn aber so vieles falsch läuft im pannonischen Rasenballsport, wieso geht man dann überhaupt ins Stadion? Die Antwort ist einfach: Es ist wegen der einen Sache, die weder der Kapitalismus, noch die Politik, weder eine größenwahnsinnige Klubführung, noch die internationale Medienpräsenz des FC Barcelona nachhaltig zerstören können. Es ist die eine Gemeinsamkeit, die den SK Sturm Graz mit dem Ferencvárosi Tornaclub und vielen anderen Traditionsvereinen weltweit verbindet.
Sobald man nämlich sieht, wie das Wort “Fradi” ein Lächeln in die unterschiedlichsten Gesichter zaubert, von Jung bis Alt, von Bürohengst bis Rettungstaucher und von der Putzkraft bis zum CEO, erkennt man die Kraft des Fußballs als gemeinsames, verbindendes Erlebnis auch in Ungarn. Natürlich wird es immer die paar Idioten geben, die ihren Schwachsinn am lautesten brüllen oder den Becher am weitesten werfen und damit das Gemeinschaftserlebnis ruinieren. Wir dürfen uns von diesen Unruhestiftern aber nicht in Geiselhaft nehmen lassen und müssen rechtzeitig reagieren, noch bevor der Venenscanner zum letzten Rettungsanker wird.
Die wichtigste Zutat im Fußball – die gesunde Euphorie für den Verein – ist bei Ferencváros reichlich vorhanden. Die Fans feiern, leiden und fiebern bei jeder Ballberührung mit, sie wollen ihre Mannschaft nach vorne treiben, Tore bejubeln und an Erfolgen teilhaben. Sie wollen den Meistertitel erobern und den dritten Stern am Trikot sehen, sie wollen in den Europacup und wieder ein großer Name im internationalen Fußball werden. Vor allem wollen sie aber ihre Mannschaft kämpfen sehen. Sie kommen in der Hoffnung auf ein starkes Spiel, in dem jeder einzelne Akteur hundert Prozent gibt. Das erinnert an die Stimmung daheim, und während Schwarz-Weiß für mich immer an erster Stelle stehen wird, ist das für einen Exil-Grazer ein guter Grund, um hin und wieder auch in Ungarn auf den Fußballplatz zu gehen.
Zu guter Letzt – eine bunt zusammengewürfelte Liste an Gemeinsamkeiten zwischen dem SK Sturm und Ferencváros:
- Beide Teams haben seit 1996 fünfmal den Cup gewonnen. Zwar konnte Fradi in dieser Zeit einen Meistertitel mehr erkämpfen als Sturm, dafür hatten wir aber auch einen Abstieg weniger. Also würde ich meinen, ein klares Unentschieden.
- Imre Szabics kam 1999 von Ferencváros zum SK Sturm und hat bei beiden Klubs Legendenstatus.
- Es kam bisher nur zu zwei Begegnungen zwischen den beiden Mannschaften. Eine in Budapest, eine in Graz. Beide endeten mit einem Auswärtssieg.
- Im letzten Jahr wurden beide Mannschaften nach langer Tabellenführung nur Vizemeister. Schön, wenn man sowas doppelt erleben darf.
- Laut Transfermarkt.at hatten beide Mannschaften im letzten Jahr (Saison 2017/18) einen ähnlichen Zuschauerschnitt. 10.256 Zuschauer für Sturm, 9.065 für Ferencváros. Dieses Jahr liegen die Budapester bisher vorne. Trotzdem ist unser Stadion prozentuell stärker gefüllt.
- Während Sturm-Fans eine schwarz-weiße Fahne mit grünem Mittelstreifen schwenken, schwenken Ferencváros-Fans eine grün-weiße Flagge mit schwarzem Mittelstreifen. Farbliche Harmonie also.
Kommentare des Autors:
- Allfällige spitzfindige Kenner des öffentlichen Verkehrsnetzes in Budapest werden einwerfen, dass man von Óbuda viel schneller zur Groupama Arena gelangt, wenn man aus der 1-er Bim bei der Árpád-Brücke auf die U-Bahn umsteigt. Es obliegt jedoch der textgestalterischen Freiheit des Autors, den längeren Weg zu wählen, um dem Leser die vielen anderen interessanten Mannschaften und Stadien näher zu bringen.
- Der Autor ist sich der Fan-Freundschaft zwischen Ferencváros und Rapid Wien bewusst und diese ist ihm piepegal. Soll sich doch jeder Verein befreunden, mit wem er will. Der Autor ist Sturm-Fan, um zu Sturm zu halten. Da muss man nicht gleich alle anderen Vereine hassen. Außerdem hat der Autor des Textes bereits einige Ferencváros-Fans zu Sturm-Fans gemacht.
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