Der belgische Hansdampf in allen Gassen
„Ein menschlicher Fehler, der passieren kann. Es wäre schade gewesen, hätte das die Meisterschaft entschieden“, kommentierte – nach dem Schlusspfiff – Sturm-Präsident Hannes Kartnig wohlwollend und verständnisvoll DAS Handspiel von Gilbert Prilasnig im meisterschaftsvorentscheidenden Grazer Derby in der 35. und vorletzten Runde der Saison 1998/1999. Die Ausgangssituation hätte nicht spannender sein können, drei Mannschaften – Sturm als Tabellenführer, Rapid einen Punkt dahinter und der Stadtrivale ebenfalls noch mit Außenseiterchancen – noch mit Meisterschaftsambitionen und das ewig junge Erzduell im Arnold-Schwarzenegger-Stadion läuft. Sturm geht in der 50. Minute durch Ivica Vastic in Führung und in Wien will Rapid gegen die SV Ried einfach kein Tor gelingen. Die Weichen für den zweiten Meistertitel in Folge scheinen gestellt zu sein, doch dann die 80. Spielminute: Nach einem Eckball, vorbei an Freund und Feind, schraubt sich Gilbert Prilasnig, am Strafraumrand verweilend, völlig unmotiviert, ohne jegliche Bedrängnis in die Höhe und fährt mit der Hand Richtung rundes Spielgerät. Klarer Elfmeter. Wie angewurzelt verharren die anderen Sturmspieler auf ihren gegenwärtigen Positionen und können sich nicht erklären, was soeben passiert ist. Am allerwenigsten versteht es Prilasnig selbst. Boban Dimitrovic tritt den fälligen Strafstoß und mit viel Glück schwindelt sich der Ball unter Torwart Sidorczuks Körper über die Torlinie. 1:1-Ausgleich. Noch kein Problem? Doch: Beinahe zeitgleich geht Rapid in Hütteldorf durch Jürgen Saler mit 1:0 in Führung und ist plötzlich Tabellenführer.
In der 83. Minute kommt dann der 1,77 m große Belgier Jan-Pieter Martens für Mario Haas in das Spiel. Sturm spielt jetzt Hollywood, der GAK begnügt sich mit dem vermeintlichen Unentschieden, reicht ja, Hauptsache Sturm wird nicht Meister – kommt aber gegen Ende der regulären Spielzeit auch noch zu Konterchancen. Die roten Fans in Liebenau – wie immer bei Derbys klar in der Minderheit – singen inbrünstig: „Hier regiert der GAK“. In der dreiminütigen Nachspielzeit, während Robert Seeger im TV der totalen Verzweiflung schon ganz nahe ist und Hannes Kartnig sich bereits – mittlerweile hat er den VIP-Club verlassen und steht neben Ivica Osim bei der Betreuerbank – zur großen Spielerschelte aufgestellt hat, schnappt sich Martens exakt nach 92 Minuten und 40 Sekunden die Kugel, setzt zu einem Sprint im Mittelfeld an, spielt auf Markus Schupp, der den Ball über zwei GAK-Verteidiger in den Strafraum lupft, wo Martens schon auf das vollendende Doppelpassspiel wartet und den Ball im Fallen volley in die Maschen drischt. 2:1. Exakt 92 Minuten und 49 Sekunden waren gespielt. Doch als alle Spieler mit dem Belgier feiern wollen, bittet dieser plötzlich um Distanz. Im Fallen und durch die Wucht seines Schusses war ihm eine Kontaktlinse abhanden gekommen, die er nun am Grün des Liebenauer Rasens sucht, während drei Viertel des Stadions in völliger Ekstase sich in den Armen liegen. Gilbert Prilasnig ist der erste Gratulant und bekreuzigt sich. Am Abend gibt er dem Belgier ein paar Getränke aus. „Ein menschlicher Fehler, der passieren kann“, nun ja: Wie Kartnig über Prilasnig nach dem Schlusspfiff geurteilt hätte, wäre da nicht Jan-Pieter Martens Energieanfall gewesen? Man kann es sich ungefähr ausmalen.
Das Meisterschaftsfinale ist somit im Prinzip reine Formsache. Sturm schlägt den FC Tirol mit 3:0. Neben den zwei Abschiedstoren vom zukünftigen Straßburg-Legionär Mario Haas, trifft Jan-Pieter Martens erneut zum vorentscheidenden 2:0. Der Belgier war zu jener Zeit der Mann für die wichtigen Tore und somit ein wesentlicher Baustein, dass eine ganze Stadt zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres in eine Partymeile umfunktioniert wurde.
Der Weg von Martens zu Sturm war eine Odyssee in drei Teilen. Mit Happy-End. Beim Trainingslager der Schwarz-Weißen auf Gran Canaria wurde die Vereinsführung erstmals auf den Mittelfeldspieler aufmerksam. Bei einem zeitgleich durchgeführten Turnier, dem Maspalomas-Cup, an der Küste des Atlantiks bekam es Sturm mit Leipzig, IFK Göteborg und Roda Kerkrade zu tun. Bei der Wahl zum Spieler des Turniers wurde Martens, der erst eineinhalb Jahre zuvor von KV Mechelen zu Roda Kerkrade gewechselt war, zum zweitbesten Spieler des Turniers gewählt. Knapp hinter einem gewissen Ivica Vastic. Kurz darauf folgte schon ein Angebot von Sturm. Martens kam nach Graz, lehnte aber noch ab. Als er im Laufe des Frühjahres Probleme mit seinem Trainer bei Roda Kerkrade, dem späteren HSV-Coach Martin Jol, bekam und sich zumeist nur noch auf der Tribüne wiederfand, wurde man seitens der Vereinsführung im Sommer noch einmal aktiv. Im dritten Anlauf hat es dann auch geklappt und im Dezember desselben Jahres übersiedelte JPM, der allen belgischen Nachwuchsauswahlen angehörte, nach Graz.
„Mir war Österreich als Fußballland damals ehrlich gesagt eine Unbekannte. Selbst als ich schon ein paar Tage da war, hatte ich noch ein mulmiges Gefühl. In Holland oder Belgien war der österreichische Fußball nicht existent. Ich hatte keine Ahnung, was mich in Graz erwartet. Ich habe dann aber schnell feststellen dürfen, dass sich die Bundesliga zu diesem Zeitpunkt auch international nicht verstecken musste. Auch die Leute in Graz waren eine positive Überraschung, ich fand sehr schnell Anschluss, habe viele gute Freunde gefunden. In Österreich wurde man so akzeptiert, wie man ist. Ich hab mich sehr schnell nicht mehr fremd gefühlt. Mehr noch: Wenn ich während meiner Sturm-Ära nach Belgien heimfuhr, bekam ich richtiggehend Heimweh nach Graz. Bei einer Feier, knapp vor Weihnachten, kamen alle Spieler mit ihren Angehörigen zusammen. Da fühlte ich erstmals den berühmten Sturmgeist. Mir kam es damals schon so vor, als wäre ich ewig hier.“
Eigentlich wurde Martens nur als Perspektive gekauft. Seine ersten vielversprechenden Auftritte im Sturm-Dress hatte der Belgier aber schon beim Grazer Hallenturnier im Jänner 1998. In der Bundesliga hingegen kam er anfangs überhaupt nicht zum Zug. Zu groß war die Konkurrenz, zu gut und eingespielt Osims Stammelf. „Es war eine funktionierende Mannschaft, wieso hätte der Trainer etwas ändern sollen? Ich habe mir gedacht, ich arbeite ruhig weiter und mir war bewusst, dass es auch etwas an Glück bedarf, sich in diese Mannschaft zu spielen.“
Erst als nach dem 5:0-Heimsieg gegen die Austria am 13. April 1998 der erste Sturm-Meistertitel feststand, gab Martens, der bereits 1997 mit Roda niederländischer Pokalsieger wurde, sein Bundesligadebüt: Beim 4:1-Auswärtserfolg gegen Ried wurde er in der 85. Minute für Roman Mählich eingewechselt, seinen ersten Einsatz von Beginn hatte er am Tag der ersten Meisterfeier im letzten Heimspiel gegen die Admira. Mit Blau-Schwarz, den Farben des Sponsors Puntigamer, getönten Haaren. So richtig ins Team spielte er sich dann in den beiden folgenden Spielzeiten, in denen er zu 53 Einsätzen in der Bundesliga kam und auch achtmal in der Champions League ran durfte. In dieser Zeit war er – nicht nur beim bereits erwähnten GAK-Spiel – oftmals der Mann für die entscheidenden Tore. Kein Wunder, dass JPM sich dick ins Notizbuch des belgischen Nationalteamtrainers Robert Waseige spielte und gute Chancen hatte, bei der Europameisterschaft 2000 im eigenen Land für die „Roten Teufel“ aufzulaufen. Doch ein schwerer Kreuzbandriss knapp vor der EM zerstörte diesen Traum. Es sollte bis zum März 2001 dauern, bis sich der Belgier von dieser Verletzung erholt hat und wieder für Sturm auflaufen konnte. Die grandiose Gruppenphase in der Champions-League-Saison 2000/2001 erlebt er deswegen nur als Zuseher. Auch danach spielt er nur noch 18-mal für Sturm, eine weitere Knieverletzung bedeutet de facto das Ende seiner Karriere in Schwarz-Weiß.
Doch anstatt während dieser langen Rehabilitationsphasen in der Luft zu hängen oder gar in Selbstmitleid zu zerfließen, findet Martens jetzt wieder mehr Zeit sich der Musik zu widmen. Er richtet sich in Graz ein Tonstudio ein und nimmt auch seine erste CD „Shining like a Butterfly“ auf. Von der Nachfolge-EP „Mirrorface“ werden 4.000 Stück verkauft. Zudem gründet er 2003 die heute noch existierende Musikplattform Platoo (niederl.: Bühne), um einer organisierten Netzwerkstruktur, dem ihm umgebenden Songwriterzirkel, die geeignete Bühne zu bieten. Martens war eben immer einer, für den der Fußball nicht den Lebensmittelpunkt darstellen sollte. Nie einer, der sich nach zwei Trainingseinheiten am Abend auch noch vor den Fernseher setzte um sich ein Livespiel anzuschauen. Viel lieber widmete er sich seiner großen Liebe, der Musik, oder gab sich dicken Wälzern alter Philosophen hin.
Auch sein Ex-Verein, genauer gesagt Hannes Kartnig und Manager Heinz Schilcher, inspirieren ihn in gewisser Weise. Zusammen mit dem Grazer Musiker und bekennenden Sturmanhänger Rainer Binder-Krieglstein versieht er der Nummer „Alles verloren“ einen neuen Text. Darin rechnet er mit diesen beiden Herren ab, bemängelt, dass Spieler mit Führungsqualitäten vom Klub verabschiedet wurden und es auch dadurch zum sportlichen Untergang kam, da keine Fußballer mehr im Team waren, die sich getraut hätten, den Mund aufzumachen. Ganz mit dem Kicken hat er zu dieser Zeit aber noch nicht aufgehört. Nach beinahe zweijähriger Verletzungspause kämpft er sich über den damaligen Regionalligisten Arnfels zurück in die Zweite Liga zum FC Untersiebenbrunn. Der Belgier absolviert 22 Partien für die Niederösterreicher, sein letztes Spiel als Profifußballer datiert vom 6. Mai 2005, als er mit den Marchfeldern auswärts gegen DSV Leoben mit 2:0 gewinnt. Martens war zu diesem Zeitpunkt erst 30 Jahre alt.
Danach versucht sich Martens als Profi-Musiker, ohne dabei den Anspruch zu haben, sich in das ganz große Rampenlicht, wie es ihm als Fußballer zuteilwurde, zu spielen. Trotzdem kommen zu dem ein oder anderen Martens-Konzert mehr Zuschauer als zur selben Zeit ins Arnold-Schwarzenegger-Stadion. Er hält sich mit Footvolley einigermaßen fit, seine Konzertreisen führen ihn bis nach Brasilien und in Südamerika soll er auch seine jetzige Frau kennenlernen. Darum bleibt er auch dem Gerichtsprozess rund um Hannes Kartnig fern. Während der Verhandlung wird bekanntgegeben, dass Jan-Pieter Martens nicht in den Zeugenstand gerufen werden kann, da er „gerade mit seiner Gitarre durch Brasilien tourt.“ Zudem eröffnet er dort zusammen mit brasilianischen Freunden ein Bed-and-Breakfast-Hotel.
Doch ganz lässt Jan-Pieter Martens der Fußball nie los. Nach seinem dreijährigen Aufenthalt in Brasilien kehrt er in seine belgische Heimat zurück und wird Technischer Direktor bei VV St. Truiden, wird aber dort nach knapp einem Jahr entlassen. Genau zu dieser Zeit sucht Schalke 04-Sportchef Horst Held einen neuen Teammanager für die Königsblauen und erinnert sich an seinen alten Spezi aus Grazer Tagen. Im Juni 2013 tritt der Belgier, der dank seiner Sprachkenntnisse mit beinahe allen Spielern im sehr internationalen Kader von Schalke kommunizieren kann, dieses Amt an.
„Bei einem solchen Verein von europäischen Format tätig zu sein, ist eine sehr anspruchsvolle, aber auch schöne Tätigkeit. Es fühlt sich an wie ein altes Leben, da ich wieder sehr viel Zeit am Platz verbringe. Dadurch, dass ich zehn Jahre Profi war, weiß ich, wie Spieler ticken, denken und reagieren. Meine Aufgabe ist es, Voraussetzungen zu schaffen, damit sich der Trainer ursächlich auf das Training konzentrieren kann. Mein Job ist sehr facettenreich und ich bin trotzdem immer nah an der Mannschaft dran. Die Spieler sollen sich auf das Kicken konzentrieren, den Rest erledige ich.“
Bis heute fühlt er sich mit Graz sehr verbunden, ist ständig darüber informiert, was bei Sturm gerade passiert. Eine Rückkehr zu den Schwarz-Weißen ist für ihn derzeit trotzdem kein Thema. Zumindest war er aber mitverantwortlich dafür, Donis Avdijaj nach Graz zu lotsen.
Wieso bekomme ich nur heute noch fast einen Herzinfarkt wenn ich seinen Namen höre und an ein Derby im Jahr 1999 denke
Sympathischer Bursch, nicht nur seiner Ansagen und des Derbytores wegen.
Und definitiv mit besserer Musik als Anton Polster oder Johann K.
„Hier am Bild zu sehen ein Weltklasse-Kicker und Teenieschwarm. Daneben Ronaldo“ 😀 Gefällt mir! 🙂