Als halb Graz hinter einem sowjetrussischen Schiedsrichter her war

Die Europacupschlacht Sturm vs. Nottingham Forest im Frühjahr 1984

Viertelfinale in der Europacupsaison 1983/1984: Alle Vertreter der deutschen Bundesliga sind bereits ausgeschieden, der vermeintlich „kleine Bruder“ Österreich hingegen ist im Frühjahr noch mit gleich drei Klubs auf der europäischen Bühne vertreten. Rapid Wien wird im Pokal der Landesmeister Dundee United zugelost, im UEFA-Cup trifft Austria Wien auf Tottenham und auch Sturm bekommt es mit einem Verein von der Insel zu tun, nämlich Nottingham Forest. Die Grazer hatten sich dank teilweise sensationellen Erfolgen gegen Studentesc Bukarest, Hellas Verona und LOK Leipzig für die Runde der letzten 8 qualifiziert und treffen somit auf den Gewinner des Europapokals der Landesmeister – der späteren Champions League – aus den Jahren 1979 und 1980.

Das Hinspiel im City Ground zu Nottingham hatte Sturm zwar vor 20.000 Zusehern durch ein Tor von Paul Hart mit 0:1 verloren, einem Ergebnis, das selbst viele Sturm-Knofel dieser Mannschaft nicht zugetraut hätten. Sturm kommt in England zwar zu kaum einer Torchance, hält aber das 0:0 immerhin bis zur 70. Minute, doch gerade in einer Phase, in der der Druck von Forest etwas nachzulassen schien, fängt man sich aus einer Standardsituation doch noch das Gegentor ein. Trotzdem überwiegt in den Reihen der Blackies durchaus der Optimismus und man ist überzeugt, dass das englische Klasseteam durchaus zu packen sei. Trainer Gernot Fraydl spricht sogar von einer 50:50-Chancenverteilung, warnt aber davor, dass Nottingham seine Stärken eindeutig im Konterspiel hat. Trotzdem will er von Beginn an offensiv spielen lassen, jedoch nicht ganz ohne Rückversicherung, da dies ansonsten den Briten zu sehr in die Karten spielen würde. Zudem ist der Erfolgscoach, der einst noch als Torhüter des Grazer Stadtrivalen für das österreichische Nationalteam debütierte und 1961 bei seiner Premiere vor 90.000 Zuschauern bei einem 3:1-Erfolg gegen England im Wiener Stadion zwischen den Pfosten stand, davon überzeugt, dass Sturm beim Rückspiel 14 Tage später nicht nur kämpferisch überzeugen, sondern auch fußballerisch viel entgegenzusetzen haben wird. Das spielerische Element konnte immerhin aufgrund der schlechten Platzverhältnisse in der Wintervorbereitung noch nicht genügend trainiert werden.

 

20.000 Anhänger, darunter 1.500 aus England, sorgen dann am 21.3.1984 für ein ausverkauftes Haus in Liebenau und Rekordeinnahmen für die traditionell klamme Klubkasse. Bereits in Halbzeit Eins gibt es zweimal Elfmeteralarm: Zuerst als Manfred Steiner im Strafraum Peter Davenport niederreißt, Schiedsrichter Romualdas Yuschka aus der UdSSR schon auf den Punkt zeigt, aber sein Linienrichter zum Glück eine Abseitspositon des englischen Stürmers anzeigt. In der 44. Minute overruled dann der Schiedsrichter, der im selben Jahr auch bei der Europameisterschaft in Frankreich tätig sein wird, seine Entscheidung nicht mehr: Bozo Bakota hat sich durchgetankt, wird im Strafraum von Viv Anderson attackiert und fällt – nennen wir es – sehr gekonnt. Der Kroate ist es selbst, der den Strafstoß halbhoch im linken Eck versenkt. Der Torhüter der Engländer, Hans van Breukelen, mit Holland 1988 Europameister, fliegt in das falsche Eck. Bakota hat in seiner ganzen Karriere keinen einzigen Pflichtspiel-Strafstoß verschossen, international war dies sein einziger Treffer vom Elfmeterpunkt.

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Echo-Sonderausgabe März 1984

Die zweite Halbzeit wird zu einem offenen Schlagabtausch, Torchancen allerdings sind Mangelware. Ein Fallrückzieher von Bozo Bakota, kurz vor dem Abpfiff, war noch die zwingendste Offensivaktion, daher kommt es zur Nachspielzeit, in der es sechs Minuten vor Schluss zu einer der meistdiskutiertesten Szene in der Historie von Sturm Graz kommt:
Ein völlig übermotivierter Walter Hörmann klärt erst per Kopf vor Steve Hodge, setzt dann nochmals nach und rempelt den 24fachen englischen Internationalen knapp innerhalb des Strafraums. Zum Entsetzen der Sturmfans zeigt Schiedsrichter Yuschka erneut auf den Elfmeterpunkt. Minutenlange Proteste der Grazer Spieler bleiben natürlich aussichts- und erfolglos. Colin Walsh tritt an und verlädt Walter Saria. Dabei hatte Trainer Fraydl, der die Engländer im Vorfeld mehrmals beobachtete, Saria noch vor dem Spiel dahingehend instruiert, dass der Schotte seine Strafstöße stets in das rechte Eck platziere. Das Urgestein im Sturmtor, mit Fingerverletzung aufgelaufen, ist aber davon überzeugt, dass der englische Stürmer, im Wissen, dass man ihn von Seiten der Grazer genauestens studiert hat, diesmal seine Strategie ändert und in das linke Eck schießen würde. Dem war aber nicht so und Walsh zielt wie immer in das rechte Eck. Saria wird vom Trainer gescholten, ist aber bis heute davon überzeugt, dass er nur „zu intelligent für den Stürmer“ war. In den restlichen sechs Minuten passiert nichts mehr, der Traum vom Semifinale ist damit ausgeträumt.

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Laszlo Szokolai der Dauerläufer im Sturmtrikot (c) Foto-Fischer-Graz

ORF-Reporter Robert Seeger, der damals von einem Tisch auf der Laufbahn aus das Match kommentierte, zertrümmerte – bei der abendlichen Fernsehaufzeichnung deutlich zu hören – seine Kopfhörer und der russische Schiedsrichter musste das Spielfeld mit Polizeischutz verlassen. Liebenau tobte. Selbst der Zeit seiner Karriere stets bescheidene und ruhige Andy Pichler wollte dem Schiedsrichter an die Gurgel, erst die einschreitende Polizei beruhigt den Sturmkapitän. Vor einer drohenden Sperre in einer möglichen, kommenden Europapokalsaison gewarnt, verwarf Pichler dann doch noch seine Rachegelüste. Ein Anhänger, der sich über die Osttribüne den Weg auf das Spielfeld ebnete, konnte knapp vor Yuschka erst von fünf Beamten gestellt werden, zahlreiche Bierduschen für den Referee jedoch nicht verhindert werden. Der Schiedsrichter hockte aus Sicherheitsgründen noch zwei Stunden nach Schlusspfiff in der Kabine und wurde erst spätabends im Polizeiauto und dichter Eskorte in ein Hotel am Stadtrand von Graz verbracht.

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Schiedsrichter Yuschka wird unter Begleitschutz vom Feld gebracht (c) Foto-Fischer-Graz

Eisenfuß Manfred Steiner, ein Spieler der bei solch großen Spielen zumeist, sowohl fußballerisch als auch emotional, übertourig fuhr, war selbst am Tag danach nicht zur Ruhe zu bringen:

„Ein Mensch, der das nicht selbst durchgemacht hat, kann sich nicht vorstellen, was das bedeutet. Da macht der Schiedsrichter einen Pfiff und alles ist unwiederbringlich verloren. Ich hätte es verstanden, wenn er von einem Spieler gewürgt worden wäre.“ – Manfred Steiner

Wie viel dieser Pfiff den Spielern womöglich gekostet hat, darüber werden sich die Sturmkicker an diesem Abend wohl kaum noch einen Kopf gemacht haben. Auch wenn 60.000 Schilling pro Mann im Falle des Aufstiegs vereinbart waren. Das entsprach in der damaligen Zeit, in der mit Ausnahme der Legionäre alle Spieler noch als echte Halbprofis galten, etwa dem Fünffachen eines durchschnittlichen, monatlichen Kickergehalts. Wenn man heutzutage die Bilder dieses angeblichen Skandals nüchtern betrachtet, muss man sich, trotz aller Subjektivität, eingestehen, dass der Luftkampf von Hörmann – zumindest der heutigen Regelauslegung entsprechend – sogar eher noch ein berechtigter Elfmeter war, als die Attacke von Anderson gegen Bakota in der ersten Spielhälfte. Nichtsdestotrotz hat Sturm Fußball-Österreich in dieser Saison mehr als würdig vertreten und gezeigt, dass man in der Lage war, mit absoluten europäischen Spitzenteams mithalten zu können. Auch für die beiden anderen österreichischen Vertreter war im Viertelfinale Endstation: Austria Wien unterlag den Hotspurs aus Tottenham mit einem Gesamtscore von 2:4, Rapid zog gegen Dundee United nur aufgrund der Auswärtstorregel den Kürzeren.

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Robert Pflug (links) beerbte noch im April Gernot Fraydl (rechts) als Cheftrainer von Sturm (c) Foto-Fischer-Graz

Bei Sturm ist in den letzten Meisterschaftsrunden jedoch die Luft draußen. War man vor den beiden Nottingham-Spielen den zwei Großen in der österreichischen Liga – Rapid und Austria – noch dicht auf den Fersen, verspielt man in den letzten Runden sogar noch die erneute UEFA-Pokal-Qualifikation und fällt hinter dem LASK und SSW Innsbruck auf Rang 5 zurück. Ende April trennen sich die Vereinsverantwortlichen sogar von Erfolgstrainer Gernot Fraydl und befördern seinen ehemaligen Co Robert Pflug zum Chefcoach. Letztendlich mussten viereinhalb Jahre vergehen, bis im Oktober 1988 mit Servette Genf endlich wieder einmal eine Mannschaft in einem europäischen Wettbewerb in Graz gastieren sollte.

Für Nottingham Forest, jener Verein, der in seiner Geschichte öfter die heutige Champions-Leauge (zweimal) als die nationale Meisterschaft gewann (einmal), war dann im Halbfinale Endstadion. Nach einem 2:0-Heimsieg verloren die Engländer im Rückspiel beim RSC Anderlecht mit 0:3. Das Rückspiel in Belgien sollte noch Jahre später in der Öffentlichkeit für Aufmerksamkeit sorgen, als der Präsident des RSC Anderlecht Vanden Stock 1997 bestätigte, dem spanischen Schiedsrichter Emilio Carlos Guruceta eine größere Geldsumme „geliehen“ zu haben. Nottingham war ein Tor aberkannt worden und Anderlecht hatte einen umstrittenen Elfmeter erhalten. In den 90ern entwickelte sich Forest zu einer echten Fahrstuhlmannschaft. Zum letzten Mal in der höchsten Spielklasse (Premier League) fand man sie in der Saison 1998/99. Aktuell kicken die „Reds“ in der Football League Championship, der zweithöchsten englischen Spielklasse.

 

Spieldaten

Sturm Graz – Nottingham Forest 1:1 n.V. (1:0, 1:0)
Rückspiel im UEFA-Cup Viertelfinale
21. März 1984, Stadion Liebenau, 20.000 Zuschauer

Tore
1:0 Bakota (44. Elfmeter), 1:1 Walsh (114. Elfmeter)

Sturm Graz
Saria; Schauss, Pichler, Steiner, Feirer; Breber, Huberts (60. Thonhofer), Hörmann; Bakota, Szokolai, Jurtin. (Trainer Gernot Fraydl)

Nottingham Forest
Van Breukelen; Andersen, Fairclough, Hart, Swain; Bowyer, Thijssen, Hodge; Birtles, Davenport, Walsh. (Trainer Brian Clough)

 

Bisher in dieser Reihe erschienen:

Teil 1: Ein Trainer ohne MannschaftTeil 2: Gegen den StromTeil 3: Einen Wetl wird Giannini nicht ersetzen könnenTeil 4: Die Gruabn – Für immer die Heimat des SK SturmTeil 5: Es wurde nicht immer mit fairen Mitteln gekämpftTeil 6: „Ich will mich nicht mehr jeden Tag schämen“ – Teil 7: 75 Dinge über Ivica OsimTeil 8: Marchanno Schultz – Der Absturz des „Dutch Wonderkind“Teil 9: ;Warum die Klos in Messendorf aus der Lombardei stammenTeil 10: STURM 1 ARSENAL 0

 

 

8 Kommentare

  1. wama sagt:

    ich war live vor ort, habs mir xmal auf video reingezogen – dieser elfer war eine einzige sauerei. der kleine hörmann war voll aufgezuckert, ja, war gegen den viel größeren stürmer bei dieser strafraumszene aber eine arme sau.er ging auf ein kopfballduell mit ihm, dass er nie gewinnen konnte und der stürmer begrub hörmann beim runterkommen unter sich. pfiff und elfer. selbst wenn da ein kleiner schubser, rempler dabei war, es war der brite, der dieses „foul“ wollte gegen die mickymaus hörmann. einfach nur lächerlich, kleinlich zur potenz diese entscheidung. und: bis heute vermutet man wohl nicht ganz zu unrecht, dass dieser russische schiri geschmiert war, das kleine sturm einfach nicht weiterkommen durfte…

     

  2. B.Bakota sagt:

    „….dass er nur „zu intelligent für den Stürmer“ war.“  

    😀

  3. Arch Stanton sagt:

    War zwar im Stadion und habe bis vor kurzem auch an einen Skandal geglaubt, muss aber zugeben, dass sich dieser mehr in meiner Erinnerung abgespielt hat(und sich natürlich in der Stimmung im Stadion begründet – geseh’n habe ich nämlich gar nichts, weil die Sicht ob meiner damaligen Körpergröße und den Zuständen im übermäßig vollen Liebenauer Stadion nicht optimal war).

    mein Fazit: herrliche Stimmung, sehr guter Artikel – gottverdammtes YouTube!

  4. wama sagt:

    @Neukirchner

    hörmann springt zwar wie ein wilder rauf auf den kopfball, was aber auch der brite tut. sie berühren sich seitlich und der brite begräbt hörmann – nie u nimmer elfer, normaler körperkontakt, hörmann verräumt den briten ja nicht, eher wittert der brite den kontakt und fällt geschickt auf hörmann.

    ok, der russe hats anders gesehen, aber ich als sturmfan werd das nie u nimmer tun! war einfach viel zu hart diese entscheidung und das in minute 114.

    • Neukirchner sagt:

      Einigen wir uns darauf, dass er in Nottingham bei umgekehrten Vorzeichen nicht gegeben worden wäre.

    • Donprackus sagt:

      SChließe mich Neukirchner an:

       

      Dumm attakiert. Wenn er ihn pfeifft, is es Elfer. Solche Elfer wurden schon öfters gepfiffen.

  5. Reinhold sagt:

    Danke @Günter für den tollen historischen Bericht.
    Bis zu diesem Spiel war es für Sturm eine sensationelle Saison, für viele war Sturm stärker als 80/81, wo man Vizemeister wurde.
    In der Tabelle Punktgleich mit Rapid und nur 2 Zähler hinter der Wiener Austria, die Zeitgleich gegen Tottenham um den Einzug ins UEFA-Cup-Semifinale kämpfte.
    Zum entscheidenden Elfmeter ist eigentlich alles gesagt. Damals sah niemand außer der Schiedsrichter ein Foul von Walter Hörmann, eher ein Foul an ihn. Das Sturm Glück hatte, nicht nach 11 Minuten einen Elfer gegen sich bekommen hat, dass das Elfer-Foul an Bozo Bakota weniger eines war, als jenes in der 114. Minute und das man sich mehr als ehrenhaft aus dem Bewerb verabschiedet hat, dass kam erst sehr viel später, für manche bis heute noch nicht.
    Was besonders schade war, dass Sturm an diesem Ausscheiden zerbrochen ist. Zu viel und zu lange wurde darüber geredet und geschrieben, zu groß die Enttäuschung und Unruhe im Verein. Bei so manch fragwürdigen Entscheidungen in der Meisterschaft und im Cup standen seitens Sturm immer Vorwürfe der Benachteiligungen seitens Schiedsrichterentscheidungen im Raum. Sturm schlitterte in eine sportliche Krise, holte aus den letzten 11 Spielen nur noch 2 Siege (zuvor 12 Siege aus 18 Spielen) und verspielte den sicher geglaubten UEFA-Cup-Startplatz (vielleicht sogar mehr), trennte sich von Gernot Fraydl, dem Robert Pflug folgte, der wiederum nach wenigen Runden der neuen Saison Hermann Stessl Platz machen musste. Im Nachhinein läutete das knappe Ausscheiden gegen Nottingham das Ende der großartigen und erfolgreichen Ära ein, die von Karl Schlechta geschmiedet, von Paulitsch und Otto Basic verfeinert und letztlich von Fraydl/Pflug geerntet wurde.

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