300 – die magische Zahl
DISCLAIMER: Der Piefkecorner berichtet diesmal ohne SK Sturm-Bezug vom ersten Ligaspieltag im Amateurfußball in Deutschland und der Rückkehr an den Fußballplatz, nach einem halben Jahr Livespiel-Entzug.
Leute, ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf die neuen Spielzeiten landauf und landab in Europa freue. Natürlich wird es nicht dasselbe sein wie letztes Jahr, aber in fast allen Klassen gehören die reinen Geisterspiele der Vergangenheit an. ZuschauerInnen dürfen wieder Spiele live ansehen und für Teams wie den GAK werden die Zugangsbeschränkungen vermutlich nicht einmal bemerkbar sein, aber natürlich müssen einem die organisierten Fanszenen leid tun. Klar, Fußball ohne Ultras ist gewiss ein nur halb so schönes Ereignis, da können noch so viele Leute in Rasterformation irgendwelche Tribünen bekleiden, aber schon die Rückkehr an den Spielfeldrand des Amateurfußballs war ein wirklich schönes Erlebnis.
Richtige Singstimmung kommt in den Stadien und an Plätzen weiterhin nur schwer auf. Erst recht nicht in den deutschen Profiligen, wo zumindest bis Ende Oktober weiterhin komplett ohne Fans gespielt wird. Das macht vor allem die sensationsgeifernden (SKY-)Fernsehübertragungen zu mühsamen Veranstaltungen. Grund genug, um mich vom VfL Bochum und Werder Bremen zumindest bis auf Weiteres ein wenig zurückzuziehen und endlich den Fußball zu erkunden, der das Ruhrgebiet groß gemacht hat: Die unteren Ligen!
Mal abgesehen von einem Testspiel des FC Obdach gegen Oberwölz während meiner Sommerfrische in der Heimat, war am ersten Spieltag vergangenes Wochenende der SV Wanne 1911 meine erste Station. Seit einigen Jahren in der „Landesliga Westfalen Staffel 3“ etabliert und mitten im Ortsteil Herne-Crange verankert, spielen „die Raben“ unweit vom Gelände der (zumindest in Nordrhein-Westfalen) sehr bekannten Cranger Kirmes an der Herner Anfield Road. Davon zeugt ein aus Liverpool „mitgebrachtes“ Schild, welches an der Seitenwand am Eingang angebracht wurde.
Wir haben SV Wanne 11 ausgewählt, weil der Platz samt Vereinsheim und Sitzplätzen für Publikum im Vorbeifahren auffällt. Die Vereinsfarben sind wie bei Sturm Graz, der Klub weist auch im Internetauftritt ein wenig Geschichte auf und es ist in höheren Ligen mit den Ticketverlosungen im Moment quasi unmöglich, zu den Spielen zu kommen, ohne gleich Dauerkartenbesitzer zu sein. Im Ruhrgebiet spielen ob der Bergbauvergangenheit samt ihrer „Zechenvereine“ in sämtlichen Ligen wohl mehr Traditionsklubs mit Fangruppen, als in den zwei obersten österreichischen Ligen zusammen. Das hier ist das Fußballmekka der deutschsprachigen Welt und wir haben uns in seine Niederungen begeben.
Eine Stunde vor Spielbeginn für ein Match der sechsten Liga in der Schlange an der Kasse stehen – das ist die „neue Normalität“ im Fußball. 300 Spartaner dürfen sich das Spiel ansehen, 300 werden auch da sein, wie an so vielen anderen Fußballplätzen im gesamten Bundesland und einer dieser 300 bin heute ich. Die Tageskarte kostet fünf Euro, für Vereinsmitglieder und Ermäßigte sind es zwei. Schnell noch die Hände bei der Kasse desinfizieren und das obligatorische Formular ausfüllen. Es ist ein Gefühl absurder Gewohnheit, in die gefühlt tausendste Liste meinen Namen, die Adresse und Telefonnummer einzutragen, wie es in Deutschland Corona-Vorschrift ist. Als würde es nicht schon reichen, online meine Daten um mich zu schmeißen, darf ich das nun auch analog beim Besuch so ziemlich jeder Lokalität machen. Vielleicht lande ich ja tatsächlich mal in einem Cluster und bekomme einen Anruf vom Gesundheitsamt… Jetzt gibt es erst einmal Fußball.
Noch spielt das zweite Team der „11er“, während wir uns einen Stehtisch am Spielfeldrand kapern. Hat man sich erst einmal umgesehen, merkt man, dass das mit der MNS-Pflicht (für Deutschland eher ungewöhnlich) österreichisch, sprich ohne Maske gelöst wird. Solange sich niemand daneben benimmt, lässt man sich gegenseitig in Ruhe, quatscht mit seinen Leuten und konsumiert, damit die Vereinskasse klingelt. Corona geht einem hier dank der Ausschilderung ohnehin nicht aus dem Kopf, dem Großteil der Leute vor allem aber augenscheinlich auf den Sack. Jene, die es mit der Infektionsgefahr etwas ernster nehmen, stellen sich abseits von den alteingesessenen Trunkenbolden an den Spielfeldrand, während die Durchseuchungskandidaten im Pulk vor der Kantine campieren. So wird auch jeder Getränke- und Stadionwurst-Kauf zur waghalsigen Risiko-Aktion – daran wird man sich aber wohl gewöhnen müssen. Die Bratwurst im Brötchen ist für mich nicht mit ganz so viel Nostalgie behaftet wie die Brezen im Liebenau, oder die Schnitzelsemmeln am Stadionvorplatz. Dennoch ist der erste Biss eine Offenbarung und ein weiterer Beweis dafür, wie schmerzlich die Melange aus Stadionkost und Spielbesuch vermisst wurde. Noch ein Schluck vom gezapften Pils aus dem Glas (!) und schon kommen die Teams auf das Feld.
Obwohl die Vereinsfarben von SV Wanne 11 schwarz und weiß sind, treten die Jungs komplett in Rot an. Die Gäste aus Welper hatten anscheinend nur dunkelgrau im Gepäck. Unter der Leitung der jungen Schiedsrichterin Anna-Lena Weiss (23), die ihr erstes Landesliga-Match bei den Herren leifen darf und ansonsten auch die 2. Damen-Bundesliga pfeift, wird ein munteres erstes Saisonspiel angepfiffen. Es riecht vielleicht nicht nach frisch gemähter Wiese, da hier auf einem Kunstrasen gespielt wird, aber das ist völlig egal: Hauptsache, der Ball rollt endlich wieder.
Und wie er rollt. Beide Teams machen ordentlich Dampf, wobei man merkt, dass die Aufsteiger aus Welper den Gastgebern das Spiel überlassen und vor allem durch hart geführte Zweikämpfe auffallen – gut für die Stimmung am Spielfeldrand. Dann kommt ein Ball rechts durch und die Flanke findet den Goalgetter Ivan „Benko“ Benkovic – 1:0. Ein toller Einstand und zufriedene Gesichter. Dem Ausgleich nach einem Gegenstoß aus dem Nichts, folgt chancenarmes Geplänkel bis zur Nachspielzeit der ersten Hälfte. Dort dribbelt sich Maiwald, der Zehner mit der Rückennummer 30, durch den Strafraum, spitzelt den Ball zu „Benko“ und der kann einschieben. Pausenpfiff und großer Jubel. Keine zwei Baby-Elefantenlängen Abstand von uns entfernt stolzieren die Spieler in die Kabine – Herrlich!
Der Seitentausch der zweiten Hälfte wird auch von uns ernst genommen. Wir wechseln die leeren Gläser gegen volle und den Stehtisch, um auch in Halbzeit zwei die Offensivaktionen der „Raben“ aus nächster Nähe verfolgen zu können. Mit einem Doppelschlag dreht die SG Welper das Spiel schon kurz nach der Pause. Drei mitgereiste Supporter aus Hattingen jubeln mit grün-weißen Schals. Waren mitgereiste Gästefans nicht verboten? Egal. Das Spiel nimmt jetzt fahrt auf. Welper drückt weiter, doch „unser“ Torhüter hält die Raben im Spiel. Schließlich ein erfolgreicher Doppelpass auf halb rechts, der Flügel drückt den Ball flach in den Rückraum des Strafraums – aus dem Nichts erscheint Maiwald und hämmert den Ball zum Ausgleich in die Maschen. Die Körpersprache der Teams verändert sich schlagartig. Wanne presst an, zwingt die Aufsteiger zu Fehlpässen und holt sich dadurch einen Einwurf. Dieser wird schnell auf „Benko“ ausgeführt, der nimmt den Ball nicht einmal an, sondern drischt die Kugel einfach ins kurze Eck – 4:3! Ekstatische Zustände unter den Rentnern auf der Tribüne. Gebisse fliegen über das Kantinenvordach, Rollatoren werden geschenkt und die alteingesessenen Trunkenbolde umarmen sich und busseln sich ab. Die 11er bringen die Führung über die Zeit – drei Punkte zum Auftakt und Tabellenplatz zwei!
Nach dem Abpfiff bildet sich eine lange Schlange am Ausgang und wir beschließen, beim nächsten Heimspiel am 20. September wieder mit dabei zu sein. Der SV Wanne 1911 ist ein sympathischer Klub inmitten einer strukturschwachen Region, der die kulturelle Vielfalt nicht nur auf, sondern auch abseits des Platzes zeigt. Hier supporten die meisten Leute aus dem Viertel den Verein, kein Wunder, schließlich gibt es neben den beiden Herrenteams fast alle Nachwuchsklassen und ein Frauenteam, das im Anschluss gleich spielen wird. Das weiß wohl auch der Brustsponsor der Raben. Ein Dönerspieß samt Schriftzug, dieses Trikot wäre eigentlich wirklich etwas für die Vitrine. Wir statten dem Laden gleich nach der Partie einen Besuch ab und was soll ich sagen, der Google-Bewertung geben wir recht: „Mekan bester Dönermann aus Wanne-Eickel keine Diskussion.“
Ja, so ein Spielbesuch ist nicht das Gleiche, wie wenn 40 000 im Weserstadion in Ekstase geraten. Es ist auch nicht wie wenn die Nordkurve in Graz eskaliert. Mir fehlen Choreo, Pyro, Fangesänge und Pfeifkonzerte nach wie vor. Nichtsdestotrotz hat der Amateurfußball etwas, das die Profis schon lange nicht mehr geben können: Nähe zum Publikum, faire Preise und lokale Biere aus Gläsern. Das will ich mir bewahren und beim SV Wanne 1911 jetzt öfter erleben. Aber auch der altehrwürdigen SG Wattenscheid 09, die Traditionsklubs von RW Oberhausen, RW Essen und Concordia Wiemelhausen will ich endlich mal spielen sehen. Wünscht mir Glück bei den Ticketverlosungen und supportet in dieser „neuen Normalität“ eure lokalen Amateurvereine, denn auch der LUV, der ESK und die anderen Vereine werden in Graz jeden Euro gerne nehmen, um weiter bestehen zu können…
Endlich wieder ein Spielbericht, bei dem es sich lohnt, ihn zu lesen. Aber was genau bedeutet gak?
Größter
Anzunehmender
Konkurs